Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
sagte er zu mir. »Und jedes Mal, wenn ich in der Zeitung stehe, schlage ich beim nächsten Klienten noch zehn Dollar auf meinen Stundensatz drauf. Es kommt nicht darauf an, was man in der Zeitung sagt, es kommt darauf an, dass man drinsteht. Die Menschen werden sich an Ihr Foto in der New York Times erinnern, nicht an das, was Sie gesagt haben.« Roth hatte sein ganzes Leben auf den Fall des Jahrhunderts gewartet, und er hatte ihn gefunden. Im Rampenlicht servierte er der Presse also, was sie hören wollte: Er redete über Chief Pratt und Elijah Stern und wiederholte bis zum Überdruss, dass Nola ein sonderbares Mädchen und mit Sicherheit eine Intrigantin gewesen und dass Harry in diesem Fall das eigentliche Opfer sei. Um seine Zuhörer aufzustacheln, deutete er unter Berufung auf einige imaginäre Details sogar an, dass halb Aurora mit Nola intim gewesen sei. Er trieb es so weit, dass ich ihn irgendwann anrief und zur Rede stellte.
»Sie müssen mit diesem pornografischen Geklatsche aufhören, Benjamin. Sie ziehen alle in den Schmutz.«
»Aber genau darum geht es, Marcus! Wenn man es genau nimmt, ist es nicht mein Job, Harrys Ehre reinzuwaschen, sondern aufzudecken, wie viel Dreck die anderen ach so ehrbaren Menschen am Stecken haben. Und sollte es zum Prozess kommen, werde ich Pratt aussagen lassen, Stern vorladen und sämtliche Männer Auroras in den Zeugenstand rufen, um sie öffentlich für ihre fleischlichen Sünden mit der kleinen Kellergan büßen zu lassen. Und ich werde beweisen, dass Harrys einziges Verschulden darin bestanden hat, sich von einer Perversen verführen zu lassen – wie so viele andere vor ihm.«
»Was reden Sie da?«, rief ich aufbrausend. »Davon war nie die Rede!«
»Lassen Sie uns das Kind doch beim Namen nennen, mein Freund: Die Kleine war eine Schlampe.«
»Sie können einem leidtun!«, erwiderte ich.
»Wieso? Ich gebe nur wieder, was Sie in Ihrem Buch schreiben, oder nicht?«
»Eben nicht, und das wissen Sie genau! Nola war alles andere als eine aufreizende Unruhestifterin. Das zwischen ihr und Harry war eine Liebesgeschichte!«
»Die Liebe, immer die Liebe! Die Liebe hat gar nichts zu bedeuten, Goldman! Die Liebe ist ein Trick, den sich die Männer ausgedacht haben, damit sie ihre Wäsche nicht selbst waschen müssen!«
Die Staatsanwaltschaft stand unter massivem Beschuss der Presse, und die Auswirkungen waren bis in die Räume der Kriminalpolizei hinein zu spüren: Gerüchten zufolge hatte der Gouverneur höchstpersönlich die Polizei bei einem Dreiparteiengespräch aufgefordert, die Angelegenheit schleunigst zu klären. Seit Sylla Mitchells Enthüllungen begann Gahalowood klarer zu sehen. Die Hinweise auf Luther verdichteten sich, und er ging fest davon aus, dass die grafologische Untersuchung des Notizbuchs seinen Verdacht bestätigen würde. In der Zwischenzeit wollte er herausfinden, was genau Luther in Aurora getrieben hatte. Aus diesem Grund verabredeten wir uns am Sonntag, den 20. Juli, mit Travis Dawn. Er sollte uns erzählen, was er darüber wusste.
Da ich mich noch nicht imstande fühlte, mich in Aurora selbst blicken zu lassen, willigte Travis ein, sich in einem Autobahnrestaurant nahe Montburry mit uns zu treffen. Ich machte mich wegen der Dinge, die ich über Jenny geschrieben hatte, auf eine ungemütliche Begegnung gefasst, aber Travis legte mir gegenüber eine große Freundlichkeit an den Tag.
»Es tut mir leid, dass diese Dinge an die Öffentlichkeit gelangt sind«, sagte ich zu ihm. »Es waren persönliche Aufzeichnungen, die nicht hätten veröffentlicht werden dürfen.«
»Ich kann dir deswegen nicht böse sein, Marc …«
»Du könntest schon …«
»Du schreibst nur, wie es war. Ich weiß doch, dass Jenny damals in Quebert verschossen war. Ich habe mitgekriegt, wie sie ihn angesehen hat … Im Gegenteil, Marcus, ich glaube, dass deine Nachforschungen Hand und Fuß haben … Apropos Nachforschungen: Gibt’s was Neues?«
Gahalowood antwortete an meiner Stelle: »Neu ist, dass wir Luther Caleb ernsthaft in Verdacht haben.«
»Luther Caleb … Diesen Schwachkopf? Dann stimmt das mit den Gemälden also?«
»Ja. Offenbar hat die Kleine Stern regelmäßig besucht. Wussten Sie das von Chief Pratt und Nola?«
»Diese abscheuliche Geschichte? Nein! Als ich davon erfahren habe, bin ich aus allen Wolken gefallen. Wissen Sie, das war vielleicht ein Ausrutscher, aber er war immer ein guter Polizist. Ich glaube nicht, dass man seine Ermittlungen und
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