Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
aufsammelte. Im Wohnzimmer entdeckte ich ein kleines Fotoalbum, das wie durch ein Wunder keinen Schaden genommen hatte. Ich nahm es mit nach draußen und setzte mich gegenüber vom Haus unter eine große Birke, um es mir anzusehen. In diesem Augenblick traf Erne Pinkas ein. Er sagte nur: »Ich habe deinen Wagen in der Auffahrt gesehen« und setzte sich neben mich. »Sind das Harrys Fotos?«, fragte er und zeigte auf das Album.
»Ja. Ich habe sie im Haus gefunden.«
Wir schwiegen eine Weile. Ich blätterte die Seiten um. Die Bilder stammten schätzungsweise aus den frühen 1980er-Jahren. Auf mehreren war ein gelber Labrador zu sehen.
»Wem gehört dieser Hund?«, wollte ich wissen.
»Harry.«
»Ich wusste nicht, dass er einen hatte.«
»Er hieß Storm und ist zwölf oder dreizehn Jahre alt geworden.«
Storm. Der Name kam mir irgendwie bekannt vor, aber ich wusste nicht mehr, woher.
»Marcus«, sagte Pinkas, »ich wollte neulich nicht ungerecht zu dir sein. Es tut mir leid, wenn ich dich verletzt habe.«
»Ach, das macht nichts.«
»Doch, es macht etwas. Ich wusste nicht, dass du Drohungen erhalten hast. Hatten sie mit deinem Buch zu tun?«
»Vermutlich.«
»Wer hat das nur getan?«, fragte er bestürzt und zeigte auf das Haus.
»Das ist nicht klar. Die Polizei sagt, es wurde ein Brandbeschleuniger verwendet, so etwas Ähnliches wie Benzin. Sie haben unten am Strand einen leeren Kanister gefunden, aber sie konnten die Fingerabdrücke darauf niemandem zuordnen.«
»Du hast Drohungen erhalten und bist trotzdem geblieben?«
»Ja.«
»Wieso?«
»Warum hätte ich weggehen sollen? Aus Angst? Angst ist ein schlechter Ratgeber.«
Pinkas sagte, ich sei ein »ganzer Kerl« und er wäre auch gerne ein »ganzer Kerl« geworden. Seine Frau habe immer an ihn geglaubt. Sie war vor ein paar Jahren an einem Tumor gestorben. Auf dem Sterbebett hatte sie zu ihm gesagt, als wäre er ein junger Mann, der das Leben noch vor sich hatte: »Ernie, du wirst etwas Großes vollbringen. Ich glaube an dich.« – »Dafür bin ich zu alt … Ich habe das Leben schon hinter mir.« – »Es ist nie zu spät, Ernie. Solange man nicht tot ist, hat man das Leben noch vor sich.« Aber alles, was Ernie seit dem Tod seiner Frau zuwege gebracht hatte, war, einen Job im Supermarkt zu ergattern, um das Geld für ihre Chemotherapie zurückzuzahlen und für die Instandhaltung ihres Marmorgrabs aufzukommen.
»Ich schiebe Einkaufswagen zusammen, Marcus. Ich laufe auf dem Parkplatz herum, spüre einsame, allein gelassene Einkaufswagen auf, nehme sie mit, tröste sie und bringe sie zusammen mit ihren Kameraden für die nächsten Kunden zur Sammelstelle. Einkaufswagen sind nie allein, jedenfalls nicht lange, weil es in allen Supermärkten der Welt einen Ernie gibt, der sie einsammelt und zurück zur Familie karrt. Aber wer holt Ernie anschließend ab und bringt ihn zu seiner Familie? Warum tut man für die Menschen nicht, was man für die Einkaufswagen tut?«
»Du hast recht. Was kann ich für dich tun?«
»Ich würde in deinem Buch gern in der Danksagung erwähnt werden. Ich hätte gern, dass mein Name auf der letzten Seite in der Danksagung erscheint, wie Schriftsteller das oft machen. Ich möchte, dass mein Name in Großbuchstaben ganz oben steht. Schließlich habe ich dir bei deinen Recherchen ein bisschen geholfen. Glaubst du, das wäre möglich? Meine Frau wäre stolz auf mich. Ihr kleiner Mann hat etwas zum überwältigenden Erfolg von Marcus Goldman, dem neuen Stern am Literaturhimmel, beigetragen.«
»Du kannst auf mich zählen«, versprach ich ihm.
»Ich werde ihr aus deinem Buch vorlesen, Marc. Ich werde mich jeden Tag zu ihr setzen und ihr aus deinem Buch vorlesen.«
»Aus unserem Buch, Erne, aus unserem Buch.«
Plötzlich hörten wir hinter uns Schritte. Es war Jenny. »Ich habe deinen Wagen in der Auffahrt gesehen«, sagte sie zu mir.
Bei diesen Worten mussten Ernie und ich grinsen. Ich stand auf, und Jenny schloss mich mütterlich in die Arme. Dann blickte sie zum Haus und fing an zu weinen.
Als ich an diesem Tag nach Concord zurückfuhr, schaute ich unterwegs bei Harry im Sea Side Motel vorbei. Er übte vor seinem Zimmer mit nacktem Oberkörper Boxtechniken. Er war nicht mehr derselbe. Als er mich sah, sagte er: »Boxen wir, Marcus.«
»Ich bin gekommen, um mit Ihnen zu reden.«
»Wir reden beim Boxen.«
Ich hielt ihm die Dose mit der Aufschrift SOUVENIR AUS ROCKLAND, MAINE hin, die ich in den Ruinen des Hauses gefunden
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