Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Sie observierten die nähere Umgebung rund um das Haus der Kellergans und hörten das Telefon ab. Sollte es sich tatsächlich um eine Entführung handeln, müsste der Entführer bald in Erscheinung treten. Entweder würde er anrufen oder sich, wenn er ein ganz abgefeimter Bursche war, unter die Schaulustigen mischen, die an der Terrace Avenue 245 vorbeidefilierten und Zeichen ihrer Anteilnahme niederlegten. Sollte es in diesem Fall aber nicht um Lösegeld gehen, sondern es sich, wie mancher befürchtete, um die Tat eines Geisteskranken handeln, musste dieser so schnell wie möglich unschädlich gemacht werden, bevor er wieder zuschlagen konnte.
Die Bevölkerung rückte zusammen. Die Männer konnten die Stunden schon nicht mehr zählen, die sie Wiesen und Wälder Abschnitt für Abschnitt durchkämmt und die Ufer von Wasserläufen abgesucht hatten. Robert Quinn nahm sich zwei Tage frei, um sich an der Suche zu beteiligen. Erne Pinkas verließ die Fabrik mit Erlaubnis seines Vorarbeiters täglich eine Stunde früher, um die Suchtrupps zu verstärken, die vom Spätnachmittag bis zum Einbruch der Dunkelheit im Einsatz waren. In der Küche des Clark’s richteten Tamara Quinn, Amy Pratt und andere Ehrenamtliche den Proviant für die Freiwilligen her. Ihre Gespräche kreisten ausschließlich um die Ermittlungen.
»Ich weiß etwas!«, behauptete Tamara Quinn immer wieder. »Ich weiß etwas ganz Wichtiges!«
»Was denn? Erzähl schon!«, riefen ihre Zuhörerinnen, während sie Weißbrot mit Butter bestrichen, um Sandwiches zu machen.
»Das kann ich euch nicht sagen … Es ist viel zu schlimm.«
Jede der Frauen hatte ihr Teil beizusteuern. Schon seit Langem argwöhnte man, dass es in der Terrace Avenue 245 nicht mit rechten Dingen zuging, und es war bestimmt kein Zufall, wenn die Sache jetzt ein böses Ende nahm. Mrs Philips, deren Sohn mit Nola in eine Klasse ging, berichtete, wie ein Schüler in der Pause zum Spaß Nolas Polohemd hochgehoben und alle die blauen Flecken auf ihrem Körper gesehen hatten. Mrs Hattaway erzählte, dass ihre Tochter Nancy sehr eng mit Nola befreundet war und sich im Sommer eine ganze Reihe merkwürdiger Dinge abgespielt hatten, insbesondere Folgendes: Nola war ungefähr eine Woche lang wie vom Erdboden verschluckt und die Haustür der Kellergans in dieser Zeit für jeden Besucher geschlossen gewesen. »Und dann diese Musik!«, schickte Mrs Hattaway hinterher. »Tag für Tag lief in der Garage diese viel zu laute Musik. Ich habe mich gefragt, warum zum Teufel das ganze Viertel mit diesem ohrenbetäubenden Lärm beschallt werden musste. Eigentlich hätte ich mich beschweren sollen, aber ich habe mich nicht getraut. Schließlich handelte es sich ja um den Reverend …«
Montag, 8. September 1975
Es war um die Mittagszeit.
Harry wartete in Goose Cove. In seinem Kopf drängten sich die immer selben Fragen: Was war geschehen? Was war mit ihr passiert? Seit einer Woche hatte er sich hier im Haus eingeigelt und wartete. Er schlief auf dem Sofa im Wohnzimmer und schreckte beim leisesten Geräusch hoch. Er aß nichts mehr. Er hatte das Gefühl, verrückt zu werden. Wo konnte Nola stecken? Wie konnte es sein, dass die Polizei keine Spur von ihr fand? Je länger er darüber nachdachte, desto mehr drängte sich ihm ein Gedanke auf: Was war, wenn Nola alle Spuren verwischt hatte? Wenn sie den Angriff nur simuliert hatte? Tomatenketchup im Gesicht und Schreie, um eine Entführung vorzutäuschen? Während die Polizei in Aurora und Umgebung nach ihr suchte, hätte sie Zeit gehabt, sich in aller Ruhe in den entlegensten Winkel Kanadas abzusetzen. Vielleicht würde man sie schon bald für tot erklären und die Suche nach ihr einstellen. Hatte Nola alles nur inszeniert, damit sie ein für alle Mal Ruhe hatten? Falls ja, warum war sie dann nicht zu ihrer Verabredung ins Motel gekommen? War die Polizei zu schnell da gewesen? Hatte sie sich im Wald verstecken müssen? Und was war bei Deborah Cooper vorgefallen? Gab es zwischen beiden Fällen einen Zusammenhang, oder war alles nur reiner Zufall? Wenn Nola nicht entführt worden war, warum gab sie ihm dann kein Lebenszeichen? Warum hatte sie sich nicht hierher, nach Goose Cove, geflüchtet? Er bemühte sich nachzudenken: Wo konnte sie sein? An einem Ort, den nur sie beide kannten. Martha’s Vineyard? Zu weit weg. Die Blechdose in der Küche erinnerte ihn an ihren Ausflug nach Maine ganz zu Anfang ihrer Beziehung. Hielt sie sich in Rockland versteckt? Bei diesem
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