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Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Titel: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Dicker
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Robert sagte sich, dass seine Frau im Safe eigentlich vor allem ihr Herz wegschloss. Er fragte sich nur, warum.
    Im vierten Fach fand er ein dickes ledergebundenes Buch. Er klappte es auf: Tamaras Tagebuch. Seine Frau führte Tagebuch! Davon hatte er nichts gewusst. Er schlug die erste Seite auf und las im Schein der Taschenlampe:
    1. Januar 1975
    Haben Silvester bei den Richardsons gefeiert.
Note für den Abend: 3. Essen war sehr mäßig, und die Richardsons sind Langweiler. Das ist mir bisher nie aufgefallen. Ich glaube, Silvester ist eine gute Gelegenheit, um herauszufinden, welche Freunde öde sind und welche nicht. Bobbo hat schnell mitgekriegt, dass ich mich langweile, und wollte mich unterhalten. Er hat Faxen gemacht, Witze erzählt und so getan, als könnte der Taschenkrebs auf seinem Teller sprechen. Die Richardsons haben sich scheckig gelacht. Paul Richardson ist sogar aufgestanden, um sich einen der Witze aufzuschreiben. Damit er ihn nicht vergisst, hat er gesagt. Und was habe ich gemacht? Ich habe Robert ausgeschimpft! Auf der Heimfahrt habe ich im Auto bösartige Dinge zu ihm gesagt. Ich habe gesagt: »Mit deinen geschmacklosen Witzen bringst du niemanden zum Lachen. Du bist erbärmlich. Wer hat dich gebeten, den Clown zu spielen, hä? Du bist doch Ingenieur in einer großen Fabrik, oder nicht? Rede über deinen Beruf, zeig, dass du wichtig und seriös bist. Wir sind doch nicht im Zirkus, verdammt!« Er hat gesagt, dass Paul über seine Witze gelacht hat, und ich habe gesagt, dass er den Mund halten soll und ich nichts mehr von ihm hören will.
    Ich weiß auch nicht, warum ich immer so ekelhaft zu ihm bin. Ich liebe ihn doch so. Er ist so ein sanfter, aufmerksamer Mensch. Ich weiß nicht, warum ich ihn so schlecht behandle. Danach mache ich mir jedes Mal Vorwürfe und hasse mich dafür, und dann werde ich noch unausstehlicher.
    Am heutigen Neujahrstag fasse ich den Vorsatz, mich zu ändern. Allerdings nehme ich mir das jedes Jahr vor, und ich habe mich noch nie daran gehalten. Aber seit ein paar Monaten gehe ich ja regelmäßig in Concord zu Dr. Ashcroft. Er hat mir geraten, dieses Tagebuch zu führen. Wir haben eine Sitzung pro Woche. Niemand weiß davon. Ich würde mich viel zu sehr schämen, wenn jemand wüsste, dass ich zu einem Psychiater gehe. Die Leute würden mich für verrückt halten, aber ich bin nicht verrückt, sondern ich leide. Ich leide, ohne zu wissen, woran. Dr. Ashcroft sagt, ich neige dazu, alles kaputt zu machen, was mir guttut. Das nennt man Selbstzerstörung. Er sagt, dass ich Angst vor dem Tod habe und es vielleicht damit zusammenhängt. Was weiß ich! Aber ich weiß, dass ich leide. Und dass ich meinen Robert liebe. Ich liebe nur ihn. Was wäre ohne ihn aus mir geworden?
    Robert klappte das Tagebuch zu. Er weinte. Was seine Frau ihm nie hatte sagen können, hatte sie hier hineingeschrieben. Sie liebte ihn. Sie liebte ihn wirklich. Sie liebte nur ihn. Er fand, dass dies die schönsten Worte waren, die er je gelesen hatte. Er wischte sich die Tränen weg, damit sie die Seiten nicht benässten, und las noch ein Stück. Arme Tamara! Seine Tamy litt still vor sich hin. Warum hatte sie ihm nichts von Dr. Ashcroft gesagt? Wenn sie litt, wollte er ihr Leid mit ihr teilen, dazu hatte er sie doch geheiratet. Als er mit dem Lichtkegel der Taschenlampe über das letzte Fach strich, stieß er auf Harrys Blatt Papier und wurde jäh in die Realität zurückgeholt. Er erinnerte sich wieder an seinen Auftrag, er erinnerte sich daran, dass seine Frau, mit Schlaftabletten vollgepumpt, im Bett lag und er dieses Papier verschwinden lassen musste. Plötzlich befielen ihn Gewissensbisse. Er war kurz davor, die Sache bleiben zu lassen, als ihm der Gedanke kam, dass sich seine Frau vielleicht weniger um Harry Quebert und mehr um ihn kümmern würde, wenn er diesen Zettel verschwinden ließ. Schließlich war er ihr wichtig, und sie liebte ihn. Das hatte sie geschrieben. Also schnappte er sich kurzerhand das Papier und verschwand in der Stille der Nacht aus dem Clark’s, nachdem er sich vergewissert hatte, dass er keine Spuren hinterlassen hatte. Er fuhr mit dem Rad durch die Stadt und hielt in einer stillen Gasse, um Harry Queberts Brief mit seinem Feuerzeug anzuzünden. Er sah zu, wie das Stück Papier zu brennen begann, sich braun verfärbte, in einer zuerst goldenen, dann blauen Flamme wand und langsam zu Asche wurde. Dann fuhr er nach Hause, befestigte den Schlüssel wieder an der Kette zwischen den

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