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Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Titel: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Dicker
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Rad, um sich in Ruhe umzusehen: Die Stadt schlief friedlich. Alles war dunkel und still. Er lehnte das Rad an eine Mauer, schloss das Clark’s auf und schlich hinein. Im Schein der Straßenbeleuchtung, der durch die großen Fenster fiel, fand er den Weg zum Büro. Nun war er der Gebieter über diesen Ort, den er noch nie ohne ausdrückliche Erlaubnis hatte betreten dürfen, er eroberte ihn, trat ihn mit Füßen, entweihte ihn. Er knipste die Taschenlampe an, die er mitgenommen hatte, und machte sich daran, die Regale und Ordner zu durchsuchen. Seit Jahren hatte er davon geträumt, hier herumzuschnüffeln. Was versteckte seine Frau wohl an diesem Ort? Robert nahm mehrere Schnellhefter zur Hand und sah sie rasch durch. Er ertappte sich dabei, wie er nach Liebesbriefen suchte. Ob sie ihn betrog? Vermutlich schon: Weshalb hätte sie sich mit ihm zufriedengeben sollen? Doch alles, was er fand, waren Bestellscheine und Buchhaltungsunterlagen. Also nahm er sich den Safe vor: ein imposanter Stahlsafe, der bestimmt einen Meter hoch war und auf einer Holzpalette stand. Robert steckte den Sicherheitsschlüssel ins Schloss, drehte ihn um und erschauerte, als er den Öffnungsmechanismus klicken hörte. Er zog die schwere Tür auf und richtete die Taschenlampe auf den Innenraum, der aus vier Fächern bestand. Zum ersten Mal sah er den Safe offen. Er zitterte vor Erregung.
    Im obersten Fach lagen Bankunterlagen, Buchhaltungsbelege, Bestellbestätigungen und die Lohnkarten der Angestellten.
    Im zweiten Fach erblickte er eine Kassette mit dem Kassenbestand des Clark’s und daneben eine zweite mit bescheidenen Barmitteln, um die Lieferanten bezahlen zu können.
    Im dritten Fach lag ein Stück Holz, das wie ein Bär aussah. Er musste lächeln. Es war der erste Gegenstand gewesen, den er Tamara geschenkt hatte, als sie zum ersten Mal miteinander ausgegangen waren. Er hatte jenen Abend wochenlang genau geplant und an der Tankstelle, wo er neben seinem Studium arbeitete, Überstunden geschoben, um seine Tamy in eines der besten Lokale weit und breit ausführen zu können, nämlich ins Chez Jean-Claude, ein französisches Restaurant, wo es angeblich hervorragende Flusskrebse gab. Er hatte die Speisekarte rauf und runter studiert, hatte ausgerechnet, wie viel es ihn kosten würde, wenn sie die teuersten Gerichte bestellte, hatte gespart, bis er genügend Geld zusammenhatte, und sie dann eingeladen. Als er sie an jenem Abend bei ihren Eltern abholte und sie erfuhr, wohin es gehen sollte, hatte sie ihn beschworen, sich ihretwegen doch nicht zu ruinieren. »Ach, Robert, du bist ein Schatz. Aber das muss nicht sein, das muss wirklich nicht sein«, hatte sie gesagt. Sie hatte Schatz gesagt. Um ihn umzustimmen, hatte sie vorgeschlagen, in Concord zu einem kleinen Italiener, den sie schon lange hatte ausprobieren wollen, zu gehen. Sie hatten also Spaghetti gegessen, Chianti und einen Grappa des Hauses getrunken und waren anschließend, leicht beschwipst, auf ein nahe gelegenes Volksfest gegangen. Auf der Heimfahrt hatten sie am Meer haltgemacht und den Sonnenaufgang abgewartet. Am Strand hatte er ein Stück Holz gefunden, das wie ein Bär aussah, und es ihr geschenkt, als sie sich im ersten Licht des anbrechenden Tages an ihn schmiegte. Sie hatte gelobt, dass sie es immer aufheben würde, und ihn zum ersten Mal geküsst.
    Gerührt setzte Robert die Erforschung des Safes fort und fand neben dem Holzstück einen Stapel Fotos, die ihn im Verlauf der Jahre zeigten. Auf die Rückseite hatte Tamara jeweils einen Kommentar gekritzelt, auch auf die jüngsten. Das letzte stammte von einem Tag im April, an dem sie sich ein Autorennen angesehen hatten. Darauf war Robert zu sehen, wie er mit dem Fernglas vor den Augen das Rennen kommentierte. Auf die Rückseite hatte Tamara geschrieben: Mein Robert, der sich so fürs Leben begeistern kann. Ich werde ihn bis zu meinem letzten Atemzug lieben.
    Neben den Fotos lagen Erinnerungsstücke aus ihrem gemeinsamen Leben: ihre Hochzeitsanzeige, Jennys Geburtsanzeige, Urlaubsfotos und Krimskrams, von dem er geglaubt hatte, dass sie ihn schon vor Langem weggeworfen hatte, so etwa kleine Mitbringsel, eine Talamibrosche, einen Souvenirkugelschreiber oder der serpentinenartig geformte Briefbeschwerer, den er in einem Kanadaurlaub erstanden hatte. All diese Dinge hatten ihm einen scharfen Tadel in der Art von Aber, Bobbo, was soll ich mit so einem Quatsch? eingetragen. Und dann hatte sie alles feierlich im Safe aufbewahrt.

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