Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
erzählte, wie Nola Kellergan mit ihren fünfzehn Jahren alles getan hatte, um Harry zu beschützen; wie sie sich hingegeben, ja kompromittiert hatte, damit er das Haus behalten und schreiben konnte und sich keine Sorgen machen musste; wie sie nach und nach zur Muse und zugleich Hüterin seines Meisterwerks geworden war; wie sie es geschafft hatte, ihn von der Außenwelt abzuschirmen, damit er sich ganz aufs Schreiben konzentrieren und das Werk seines Lebens hervorbringen konnte. Ich ertappte mich bei dem Gedanken, dass Nola Kellergan vermutlich eine dieser außergewöhnlichen Frauen gewesen war, von denen sicher alle Schriftsteller auf dieser Welt träumen. Denise rief mich eines Nachmittags aus New York an, wo sie mit beispielloser Hingabe und Effizienz meine Seiten in Form brachte, und sagte: »Marcus, ich glaube, ich muss heulen.«
»Warum?«, fragte ich.
»Wegen der Kleinen, dieser Nola. Ich glaube, ich liebe sie auch.«
Ich antwortete schmunzelnd: »Ich glaube, alle haben sie geliebt, Denise. Alle.«
Zwei Tage später, am 3. August, erhielt ich einen Anruf von Gahalowood. Er war ganz aus dem Häuschen. »Schriftsteller!«, brüllte er. »Ich habe die Ergebnisse aus dem Labor! Herrgott, Sie werden es nicht glauben! Die Schrift auf dem Manuskript stammt von Luther Caleb! Zweifel ausgeschlossen. Wir haben unseren Mann, Marcus! Wir haben ihn!«
7.
Nach Nola
»Halten Sie die Liebe in Ehren, Marcus. Machen Sie sie zu Ihrer schönsten Errungenschaft, zu Ihrem einzigen Ziel. Nach den Menschen kommen andere Menschen. Nach den Büchern kommen andere Bücher. Nach dem Ruhm kommt anderer Ruhm. Nach dem Geld kommt anderes Geld. Aber nach der Liebe, Marcus, nach der Liebe bleibt nur das Salz der Tränen.«
Das Leben nach Nola war kein Leben mehr. Alle sagten, dass die Stadt Aurora in den Monaten nach ihrem Verschwinden allmählich in einer Depression und der schrecklichen Angst vor einer neuerlichen Entführung versank.
Es war Herbst, und die Bäume waren bunt. Doch die Kinder hatten keine Gelegenheit mehr, in die großen, am Straßenrand zusammenharkten Laubhaufen zu hüpfen, weil ihre besorgten Eltern sie keinen Moment aus den Augen ließen. Sie warteten von nun an zusammen mit ihnen auf den Schulbus und passten sie bei ihrer Rückkehr schon an der Straße ab. Ab fünfzehn Uhr dreißig reihten sich die Mütter, vor jedem Haus eine, auf den Gehsteigen auf und standen Spalier, reglose Wachposten, die auf die Heimkehr ihrer Sprösslinge lauerten.
Die Kinder durften draußen nicht mehr allein unterwegs sein. Die goldenen Zeiten, in denen es auf den Straßen von fröhlich kreischenden Gören wimmelte, waren vorbei. Es gab keine Hockeyspiele auf Rollschuhen vor den Garagen, keine Wettbewerbe im Seilspringen und keine Kreidefelder vom Kästchenhüpfen auf dem Asphalt der Hauptstraße mehr, es lagen keine Fahrräder mehr auf dem Gehsteig vor dem Laden der Familie Hendorf, in dem man für weniger als einen Nickel eine Handvoll Bonbons kaufen konnte. Nun hing die beklemmende Stille von Geisterstädten über den Straßen.
Die Haustüren wurden abgeschlossen, und mit Einbruch der Dunkelheit patrouillierten in den Straßen Väter und Ehemänner, die sich zu Bürgerwehren zusammengeschlossen hatten, um ihr Viertel und ihre Familien zu schützen. Die meisten bewaffneten sich mit einem Knüppel, manch einer nahm sein Jagdgewehr mit. Notfalls, sagten sie, würden sie nicht lange fackeln, sondern schießen.
Das Vertrauen der Menschen war erschüttert. Durchreisende wie Vertreter und Fernfahrer wurden scheel angesehen und nicht aus den Augen gelassen. Doch das Schlimmste war das Misstrauen der Einwohner Auroras untereinander. Nachbarn, die seit fünfundzwanzig Jahren miteinander befreundet waren, bespitzelten sich gegenseitig. Und alle fragten sich, was der andere wohl am Spätnachmittag des 30. August 1975 getan hatte.
Die Einsatzfahrzeuge der Polizei und des Sheriffs kurvten unablässig durch die Stadt. Zu wenig Polizei beunruhigte die Menschen, zu viel machte ihnen Angst. Und parkte ein sehr leicht zu erkennendes Zivilfahrzeug der State Police, nämlich ein schwarzer Ford, vor der Terrace Avenue 245, fragten sich alle, ob es Captain Rodik war, der Neuigkeiten brachte. Bei den Kellergans blieben die Vorhänge über Tage, Wochen und schließlich Monate zugezogen. David Kellergan hielt keinen Gottesdienst mehr, und so wurde aus Manchester ein Ersatzpfarrer geschickt, der in St. James die Messe las.
Ende Oktober kam der Nebel.
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