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Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Titel: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Dicker
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zwei Bier vom Fass.
    Ich zog mein Aufnahmegerät heraus und schaltete es ein. »Nola bittet Sie also vor dieser Hotdogbude um Hilfe«, sagte ich, um das Gespräch wieder in Schwung zu bringen.
    »Ja. Meine Frau war anscheinend zu allem bereit, um Harry Quebert zu vernichten. Und Nola war zu allem bereit, um ihn vor ihr zu schützen. Ich konnte es nicht fassen, was ich nun zu hören bekam. Ich erfuhr nämlich, dass zwischen Nola und Harry tatsächlich etwas lief. Ich weiß noch genau, wie sie mich mit ihren funkelnden Augen selbstbewusst angesehen hat, als ich zu ihr gesagt habe: ›Was? Ich soll dieses Papier zurückholen ?‹ Sie hat geantwortet: ›Ich liebe ihn. Ich will nicht, dass er Ärger bekommt. Er hat diese Zeilen bestimmt nur wegen meines Selbstmordversuchs geschrieben. Es ist alles meine Schuld, ich hätte nicht versuchen dürfen, mir das Leben zu nehmen. Ich liebe ihn, er ist alles, was ich habe, alles, was ich mir je erträumen könnte.‹ Und dann hatten wir dieses Gespräch über die Liebe. ›Du willst also sagen, dass du und Harry Quebert … dass ihr …‹ – ›Wir lieben uns!‹ – ›Lieben? Was redest du da? Du kannst ihn nicht lieben!‹ – ›Warum nicht?‹ – ›Weil er zu alt für dich ist.‹ – ›Das Alter spielt keine Rolle.‹ – ›Und ob es eine Rolle spielt!‹ – ›Sollte es aber nicht!‹ – ›So ist es nun mal: Mädchen deines Alters haben mit Kerlen seines Alters nichts zu schaffen.‹ – ›Ich liebe ihn!‹ – ›Sag nicht so etwas Schreckliches, sondern iss lieber deine Pommes, hörst du?‹ – ›Aber, Mr Quinn, wenn ich ihn verliere, verliere ich alles!‹
    Ich traute meinen Ohren nicht, Mr Goldman: Die Kleine war über beide Ohren in Harry verliebt. So wie sie habe ich wohl nie empfunden. Jedenfalls kann ich mich nicht erinnern, jemals solche Gefühle für meine Frau gehegt zu haben. In dem Moment ist mir durch dieses fünfzehnjährige Mädchen klar geworden, dass ich die Liebe wahrscheinlich nie kennengelernt habe, ja dass viele Menschen die Liebe wohl nie kennenlernen. Im Grunde geben sie sich mit angenehmen Gefühlen zufrieden, richten sich in der Bequemlichkeit ihres erbärmlichen Daseins ein und verpassen die wirklich großen Gefühle, die das Leben ausmachen sollten. Einer meiner Neffen lebt in Boston. Er arbeitet im Finanzwesen, verdient jeden Monat einen Haufen Geld, ist verheiratet, hat drei Kinder, eine bezaubernde Frau und ein schönes Auto. Das ideale Leben, würde man meinen. Eines Tages kommt er nach Hause und teilt seiner Frau mit, dass er sie verlässt, dass er die Liebe seines Lebens gefunden hat, nämlich eine Studentin aus Harvard, die er bei einem Vortrag kennengelernt hat und die seine Tochter sein könnte. Alle behaupteten, bei ihm sei eine Sicherung durchgebrannt und er wolle mit diesem Mädchen seinen zweiten Frühling erleben, aber ich glaube, er ist ganz einfach der Liebe begegnet. Die Menschen reden sich ein, dass sie sich lieben, also heiraten sie. Aber dann lernen sie eines Tages ganz aus Versehen die Liebe kennen, und das haut sie um. Es ist wie bei Wasserstoff, der mit Luft in Berührung kommt: Es kommt zu einer gewaltigen Explosion, die alles verwüstet. Dreißig Jahre Ehefrust fliegen mit einem einzigen Knall in die Luft, als würde eine riesige, gärende Jauchegrube explodieren und alles rundherum einsauen. Midlife-Crisis, zweiter Frühling – alles Quatsch! Das sind einfach nur Menschen, die die Tragweite der Liebe zu spät begreifen und plötzlich erleben, wie ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt wird.«
    »Und was haben Sie ihr geantwortet?«, erkundigte ich mich.
    »Nola? Ich habe es abgelehnt. Ich habe ihr gesagt, dass ich mich da nicht einmischen will und sowieso nichts tun kann. Das Papier lag im Safe, und der einzige Schlüssel zum Safe hing Tag und Nacht am Hals meiner Frau. Und basta. Aber Nola hat mich angefleht, sie hat gesagt, wenn die Polizei dieses Papier in die Finger bekommt, kriegt Harry ernsthafte Probleme, das wäre das Ende seiner Karriere, ja vielleicht müsste er sogar ins Gefängnis, obwohl er nichts Schlimmes getan hat. Ich erinnere mich noch an ihren glühenden Blick, ihre Haltung, ihre Gesten … Von ihr ging so eine wunderbare Wildheit aus. Ich weiß noch, wie sie gesagt hat: ›Die Menschen werden alles verderben, Mr Quinn! Die Leute in dieser Stadt sind total verrückt! Es ist wie in dem Stück Hexenjagd von Arthur Miller. Haben Sie es gelesen?‹ Und in ihren Augen standen lauter

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