Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Dicke, graue, feuchte Wolken wälzten sich übers Land, und bald ging ein unsteter, eiskalter Regen nieder. In Goose Cove darbte Harry allein vor sich hin. Seit zwei Monaten hatte man ihn nirgends mehr zu sehen bekommen. Er verbrachte die Tage in seinem Arbeitszimmer an der Schreibmaschine und war völlig vereinnahmt von dem Stoß handgeschriebener Seiten, die er noch einmal durchlas und anschließend sorgfältig abtippte. Er stand zeitig auf und machte sich zurecht, indem er sich rasierte und ordentlich kleidete, obwohl er wusste, dass er das Haus nicht verlassen und niemandem begegnen würde. Dann setzte er sich an den Schreibtisch und machte sich an die Arbeit. Die wenigen Unterbrechungen, die er sich erlaubte, dienten lediglich dazu, neuen Kaffee aufzusetzen; den Rest der Zeit verbrachte er damit, seine Seiten abzuschreiben, zu lesen, zu verbessern, zu zerreißen und wieder von vorn zu beginnen.
Er wurde in seiner Einsamkeit nur von Jenny gestört. Sie besuchte ihn jeden Tag nach Dienstschluss, weil es ihr Sorgen machte, wie er langsam verkümmerte. Für gewöhnlich kam sie gegen achtzehn Uhr. In den wenigen Sekunden, die sie von ihrem Auto bis zum Hauseingang brauchte, war sie bereits vom Regen durchnässt. Sie hatte einen Korb voller Proviant dabei, den sie im Clark’s zusammengestellt hatte: Putensandwiches, russische Eier, heiße, dampfende Käse-Sahne-Nudeln, die sie in einer Metallschüssel transportierte, Puddingteilchen, die sie vor den Gästen in Sicherheit gebracht hatte, damit für Harry auf jeden Fall etwas übrig blieb. Sie klingelte an der Haustür.
Er sprang von seinem Stuhl auf. Nola! Liebste Nola!, dachte er und lief zur Tür. Strahlend und wunderschön stand sie vor ihm. Sie stürzten aufeinander zu. Er schloss sie in die Arme, wirbelte sie einmal im Kreis herum, und sie küssten sich. Nola! Nola! Nola! Sie küssten sich noch einmal und tanzten. Der Sommer war schön, der Himmel leuchtete wie immer vor dem Abend, und eine Schar Möwen, die wie Nachtigallen sangen, flog über ihre Köpfe hinweg. Sie lächelte, sie lachte, ihr Gesicht war eine Sonne. Sie war da, er konnte sie an sich ziehen, ihre Haut berühren, ihr Gesicht streicheln, ihren Duft riechen, mit ihrem Haar spielen. Sie war da, und sie lebte. Sie beide lebten. »Wo hast du nur gesteckt?«, fragte er und legte seine Hände in ihre. »Ich habe auf dich gewartet! Ich hatte solche Angst! Alle haben gesagt, dass dir etwas Schlimmes zugestoßen ist! Sie haben gesagt, dass die alte Cooper dich blutüberströmt in der Nähe von Side Creek gesehen hat! Die Polizei war überall! Sie haben den ganzen Wald abgesucht! Ich habe geglaubt, dir wäre ein Unglück widerfahren, und bin fast verrückt geworden, weil ich nicht wusste, was los war.« Sie drückte ihn fest, ja sie klammerte sich an ihn und beruhigte ihn: »Machen Sie sich keine Sorgen, liebster Harry! Mir ist nichts passiert, ich bin hier. Ich bin hier! Wir sind zusammen – für immer! Haben Sie etwas gegessen? Sie müssen hungrig sein! Haben Sie etwas gegessen?«
»Hast du etwas gegessen? Harry? Harry? Ist alles in Ordnung?«, fragte Jenny das bleiche, ausgemergelte Gespenst, das ihr die Tür geöffnet hatte.
Ihre Stimme holte ihn in die Wirklichkeit zurück. Es war dunkel und kalt, sintflutartiger Regen rauschte herab. Es war beinahe Winter. Die Möwen waren schon lange fort.
»Jenny?«, fragte er verstört. »Bist du das?«
»Ja, ich bin’s. Ich habe dir etwas zu essen gebracht, Harry. Du musst etwas zu dir nehmen, du siehst gar nicht gut aus.«
Er betrachtete sie: Sie war klatschnass und bibberte. Er ließ sie herein. Jenny blieb nur kurz, um den Korb in die Küche zu stellen und die Teller vom Vortag mitzunehmen. Als sie feststellte, dass er die Mahlzeiten darauf kaum angerührt hatte, schalt sie ihn liebevoll. »Harry, du musst essen!«
»Manchmal vergesse ich es«, antwortete er.
»Wie kann man das Essen vergessen?«
»Daran ist das Buch schuld, an dem ich schreibe … Ich bin so in die Arbeit vertieft, dass ich alles andere vergesse.«
»Das muss ein sehr schönes Buch sein«, meinte sie.
»Ja, ein sehr schönes Buch.«
Jenny verstand nicht, wie man sich wegen eines Buchs so gehen lassen konnte. Jedes Mal hoffte sie, er würde sie bitten, zum Abendessen zu bleiben. Sie bereitete immer Mahlzeiten für zwei Personen vor, doch er bemerkte es nie. Minutenlang stand sie zwischen Küche und Esszimmer und wusste nicht, was sie sagen sollte. Er schwankte jedes Mal, ob er ihr
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