Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
perlengroße Tränen. Ich hatte das Stück von Arthur Miller gelesen und erinnerte mich noch an den Wirbel bei seiner Uraufführung am Broadway. Die Premiere war wenige Tage vor der Hinrichtung des Ehepaars Rosenberg. Es war ein Freitag, das weiß ich noch. Noch Tage danach habe ich eine Gänsehaut bekommen, wenn ich daran dachte, weil die Rosenbergs Kinder hatten, die kaum älter als Jenny waren, und ich mich gefragt habe, was aus Jenny werden würde, wenn ich hingerichtet würde. Ich war damals heilfroh, kein Kommunist zu sein.«
»Warum ist Nola ausgerechnet zu Ihnen gekommen?«
»Wahrscheinlich weil sie glaubte, dass ich Zugang zum Safe hatte. Aber das war nicht der Fall. Wie schon gesagt, außer meiner Frau hatte niemand den Schlüssel. Sie hütete ihn eifersüchtig und trug ihn immer an einer Kette zwischen ihren Brüsten, und zu ihren Brüsten hatte ich da schon lange keinen Zugang mehr.«
»Was ist dann passiert?«
»Nola hat mir geschmeichelt. Sie hat gesagt: ›Sie sind doch raffiniert und geschickt, Ihnen fällt bestimmt etwas ein!‹ Am Ende habe ich mich breitschlagen lassen. Ich habe ihr versprochen, es zu versuchen.«
»Warum?«, fragte ich.
»Warum? Na, für die Liebe! Wie gesagt, sie war zwar erst fünfzehn, aber sie hat von Dingen gesprochen, die ich nie erlebt habe und vielleicht nie erleben werde, auch wenn mir diese Geschichte mit Harry, ehrlich gesagt, eher unangenehm aufgestoßen ist. Ich habe es für sie getan, nicht für ihn. Ich habe sie auch gefragt, was sie wegen Chief Pratt unternehmen will. Beweis hin oder her – Chief Pratt wusste ja nun einmal Bescheid. Sie hat mir direkt in die Augen gesehen und gesagt: ›Ich werde dafür sorgen, dass er keinen Schaden anrichten kann. Ich werde ihn zum Verbrecher machen.‹ Damals habe ich nicht richtig begriffen, was sie vorhatte. Erst vor ein paar Wochen, als Pratt verhaftet wurde, ist mir klargeworden, dass da so einiges bestimmt nicht mit rechten Dingen zugegangen ist.«
Mittwoch, 6. August 1975
Ohne sich abzusprechen, waren beide am Tag nach diesem Gespräch tätig geworden. Gegen siebzehn Uhr kaufte Robert Quinn in Concord in einer Apotheke Schlaftabletten. Um dieselbe Zeit kauerte Nola in der Verschwiegenheit des Polizeireviers von Aurora unter Chief Pratts Schreibtisch und setzte alles daran, Harry zu beschützen, indem sie Schuld auf Pratt lud, ihn zum Verbrecher machte und in einen Teufelskreis hineinzog, der über dreißig Jahre wirken sollte.
In dieser Nacht schlief Tamara wie ein Murmeltier. Nach dem Abendessen war sie so müde, dass sie zu Bett ging, ohne sich vorher abzuschminken. Wie ein nasser Sack ließ sie sich auf die Matratze plumpsen und fiel in den Tiefschlaf. Das ging alles so schnell, dass Robert für den Bruchteil einer Sekunde fürchtete, er hätte eine zu starke Dosis in ihrem Wasserglas aufgelöst und sie umgebracht, aber das schnarrende, an militärischen Gleichschritt erinnernde Geschnarche, das seine Frau kurz darauf von sich gab, beruhigte ihn gleich wieder. Dann wartete er bis ein Uhr morgens, weil er sichergehen wollte, dass auch Jenny schlief und ihn in der Stadt niemand sah. Als es so weit war, schüttelte er seine Frau gnadenlos, um sich zu vergewissern, dass sie tatsächlich außer Gefecht gesetzt war. Zu seiner Freude rührte sie sich nicht. Zum ersten Mal verspürte er so etwas wie Macht: Der Drache lag zusammengerollt auf seinem Lager und flößte niemandem mehr Angst ein. Robert öffnete den Verschluss ihrer Halskette und nahm triumphierend den Schlüssel an sich. Bei der Gelegenheit packte er mit beiden Händen ihre Brüste, stellte aber mit Bedauern fest, dass ihn das inzwischen vollkommen kaltließ.
Lautlos verließ er das Haus. Um keinen Krach zu machen und keinen Verdacht zu erregen, borgte er sich das Fahrrad seiner Tochter. Während er mit den Schlüsseln für das Clark’s und den Safe in seiner Tasche durch die Nacht radelte, spürte er in sich die Erregung des Verbotenen aufsteigen. Er wusste nicht mehr, ob er es für Nola tat oder vor allem, um seiner Frau eins auszuwischen. Er fühlte sich so frei, als er mit dem Fahrrad quer durch die Stadt sauste, dass er beschloss, sich scheiden zu lassen. Jenny war längst erwachsen, es gab also keinen Grund mehr, bei Tamara zu bleiben. Er hatte die Nase voll von dieser Furie, er hatte ein Recht auf ein neues Leben. Ohne Not fuhr er ein paar Umwege, um das berauschende Gefühl in die Länge zu ziehen. In der Hauptstraße angekommen, schob er das
Weitere Kostenlose Bücher