Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Vergehen? Der Ursprung des Übels – deshalb haben Sie das Buch so genannt! Und ich habe nie verstanden, wie man einer so schönen Geschichte einen so düsteren Titel geben kann! Dabei bezieht sich der Titel überhaupt nicht auf das Buch, sondern auf Sie. Dabei hatten Sie mir das immer wieder gesagt: Ein Buch stellt nicht unser Verhältnis zu den Wörtern dar, sondern das zu den Menschen. Dieses Buch ist der Ursprung des Übels, das Sie seither quält, nämlich das schlechte Gewissen wegen Ihres Betrugs!«
»Hören Sie auf, Marcus! Schweigen Sie!«
Er schluchzte. Trotzdem fuhr ich fort: »Eines Tages hat Nola einen Briefumschlag an Ihre Haustür gelehnt. Das war am 5. Juli 1975. Der Umschlag enthielt zwei Fotos und einen auf ihrem Lieblingspapier verfassten Brief, in dem sie von Rockland schrieb und darüber, dass sie Sie nie vergessen würde. Das war zu der Zeit, als Sie sie bewusst gemieden haben. Aber diesen Brief haben Sie nie erhalten, weil Luther Ihr Haus beobachtet und ihn an sich genommen hat, kaum dass Nola gegangen war. Und an diesem Tag hat er angefangen, sich mit Nola zu schreiben. Er hat auf ihren Brief geantwortet und sich als Sie ausgegeben. Sie hat ihm in der Annahme geantwortet, dass sie Ihnen schrieb, aber er hat ihre Post aus Ihrem Briefkasten abgefangen. Er hat ihr zurückgeschrieben und dabei immer so getan, als wäre er Sie. Deshalb hat er sich an Ihrem Haus herumgetrieben. Nola hat geglaubt, mit Ihnen zu korrespondieren, und aus dem Briefwechsel mit Luther Caleb ist Der Ursprung des Übels entstanden. Wie konnten Sie nur, Harry …«
»Ich war am Ende, Marcus! In jenem Sommer ist mir das Schreiben unsäglich schwergefallen. Ich habe geglaubt, ich würde es nie schaffen. Ich habe an diesem Buch, an Die Möwen von Aurora , geschrieben, aber es kam mir miserabel vor. Nola fand es wundervoll, aber mich konnte nichts beruhigen. Ich habe richtige Tobsuchtsanfälle bekommen. Sie hat meine handgeschriebenen Seiten auf der Maschine getippt, ich habe sie anschließend durchgelesen und zerrissen. Sie hat mich angefleht, damit aufzuhören, sie hat gesagt: ›Tun Sie das nicht! Es ist großartig! Bitte schreiben Sie das Buch fertig. Allerliebster Harry, ich ertrage es nicht, wenn Sie es nicht zu Ende schreiben!‹ Aber ich habe ihr nicht geglaubt. Ich dachte, aus mir würde nie ein Schriftsteller werden. Und dann hat eines Tages Luther Caleb an meiner Tür geklingelt. Er hat gesagt, er wüsste nicht, an wen er sich sonst wenden sollte, und sei deshalb zu mir gekommen. Er hatte ein Buch geschrieben und wollte wissen, ob es sich lohnte, es ein paar Verlegern zu zeigen. Ach, Marcus, er hat mich für einen bedeutenden Schriftsteller aus New York gehalten und gedacht, ich könnte ihm helfen.«
20. August 1975
»Luther?« Als Harry die Haustür öffnete und ihn sah, verbarg er sein Erstaunen nicht.
»Gut … Guten Tag, Harry.«
Betretenes Schweigen. »Kann ich etwas für Sie tun, Luther?«
»Ich bin auf perfönlichen Gründen hier. Um Fie um Rat fu fragen.«
»Um Rat? Ich höre. Aber möchten Sie nicht lieber hereinkommen?«
»Danke.«
Die beiden Männer setzten sich ins Wohnzimmer. Luther war nervös. Er hatte ein dickes Kuvert dabei, das er fest an sich drückte.
»Also, Luther, was gibt’s?«
»Ich … Ich habe ein Buch gefrieben. Eine Liebefgefichte.«
»Ach, wirklich?«
»Ja. Aber ich weif nicht, ob ef gut ift. Woher weif man eigentlich, ob ein Buch ef wert ift, veröffentlicht fu werden?«
»Keine Ahnung. Wenn Sie das Gefühl haben, dass Sie Ihr Bestes gegeben haben … Haben Sie den Text dabei?«
»Ja, aber nur alf handgefriebenef Manufkript«, entschuldigte sich Luther. »Daf habe ich gerade erft gemerkt. Ef gibt auch eine Freibmafinenfaffung, aber auf Verfehen habe ich den verkehrten Umflag mitgenommen. Foll ich den anderen holen und fpäter nochmal wiederkommen?«
»Nein, zeigen Sie mal her.«
»Ef ift …«
»Na, na, nicht so schüchtern. Ich bin sicher, Ihre Schrift ist gut zu lesen.«
Luther reichte ihm den Umschlag. Harry zog die Seiten heraus und überflog einige von ihnen. Er war verblüfft, wie makellos die Schrift war. »Ist das Ihre Handschrift?«
»Ja.«
»Donnerwetter! Man könnte meinen … Das ist … Das ist unglaublich. Wie machen Sie das?«
»Keine Ahnung. Ich freibe eben fo.«
»Wenn Sie einverstanden sind, lassen Sie es mir doch zum Lesen hier. Ich werde Ihnen meine ehrliche Meinung sagen.«
»Wirklich?«
»Selbstverständlich.«
Luther nahm das Angebot
Weitere Kostenlose Bücher