Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Ihnen, dass ich einen Blick darauf werfe und Ihnen sage, was ich darüber denke.«
»Und seien Sie streng!«, sagte ich.
»Versprochen.«
Er hatte mein Freund zu mir gesagt. Ich war außer mir vor Freude. Noch am selben Abend rief ich meine Eltern an, um sie auf den neuesten Stand zu bringen: Nach nur wenigen Monaten auf dem College aß ich bereits mit dem großen Harry Quebert zu Abend. Meine Mutter schnappte vor Glück fast über und rief anschließend halb New Jersey an, um allen zu erzählen, dass der großartige Marcus, ihr fabelhafter Marcus, bereits Kontakte zu den höchsten Kreisen der Literaturwelt geknüpft hatte. Marcus würde ein großer Schriftsteller werden, das war so sicher wie das Amen in der Kirche.
Am Montagabend nach dem Boxen essen zu gehen gehörte schon bald zum Ritual. Dies waren Augenblicke, die ich mir um nichts auf der Welt hätte entgehen lassen und die mich in dem Gefühl bestärkten, Der Fabelhafte zu sein. Ich genoss bei Harry Quebert eine Sonderstellung: Wenn ich mich donnerstags in seiner Vorlesung zu Wort meldete, speiste er mich nicht wie die anderen Studenten mit einem banalen Mister oder Misses ab, sondern sprach mich mit Marcus an.
Ein paar Monate später – es muss Januar oder Februar gewesen sein, auf jeden Fall kurz nach den Weihnachtsferien – hakte ich bei einem unserer montäglichen Abendessen nach, wie er meine Kurzgeschichte gefunden habe, denn er hatte sich immer noch nicht dazu geäußert.
Nach kurzem Zögern fragte er: »Wollen Sie das wirklich wissen, Marcus?«
»Auf jeden Fall. Und seien Sie kritisch. Ich bin hier, um etwas zu lernen.«
»Sie schreiben gut. Sie haben Talent.«
Ich wurde vor Freude rot. »Was noch?«, rief ich ungeduldig.
»Sie sind begabt, das lässt sich nicht leugnen.«
Ich war auf dem Gipfel des Glücks. »Gibt es etwas, was ich Ihrer Ansicht nach verbessern sollte?«
»Oh, aber sicher. Wissen Sie, Sie haben großes Potenzial, aber was ich gelesen habe, ist schlecht. Sehr schlecht, um ehrlich zu sein. Es taugt nichts. Das gilt übrigens auch für all Ihre anderen Texte in der Unizeitung, die ich gelesen habe. Es ist ein Verbrechen, Bäume zu fällen, damit so ein Geschmiere gedruckt werden kann. Wahrscheinlich gibt es gar nicht genügend Wälder für die vielen schlechten Schriftsteller in diesem Land. Da muss etwas passieren.«
Mir blieb das Herz stehen. Das war wie ein gewaltiger Keulenschlag. Es stellte sich heraus, dass Harry Quebert, der König der Literatur, vor allem der König der Mistkerle war.
»Sind Sie immer so?«, fragte ich scharf.
Er lächelte amüsiert und musterte mich mit seiner Paschamiene, als würde er den Moment auskosten.
»Wie denn?«, fragte er zurück.
»Unausstehlich.«
Er musste lachen. »Wissen Sie, Marcus, ich habe Sie durchschaut. Sie sind ein eingebildeter kleiner Schnösel im ersten Studienjahr, der Montclair für den Nabel der Welt hält. Die Europäer dachten im Mittelalter ganz ähnlich, bis sie sich mit dem Schiff aufmachten und feststellten, dass die meisten Zivilisationen jenseits der Meere höher entwickelt waren als sie, was sie mit riesigen Massakern zu vertuschen suchten. Damit möchte ich Folgendes sagen, Marcus: Sie haben was auf dem Kasten, aber wenn Sie den Hintern nicht hochkriegen, gehen Sie sang- und klanglos unter. Ihre Texte sind ganz gut, aber Sie müssen sie komplett überarbeiten: den Stil, die Sätze, das Konzept, die Ideen. Sie müssen sich selbst infrage stellen und sich mehr Mühe geben. Ihr Problem ist, dass Sie sich nicht genug reinhängen. Sie geben sich mit sehr wenig zufrieden und reihen die Wörter aneinander, ohne sie gründlich abzuwägen, und das merkt man. Sie halten sich für ein Genie, was? Sie täuschen sich. Ihre Texte sind hingepfuscht, und deshalb sind sie nichts wert. Die eigentliche Arbeit liegt noch vor Ihnen. Können Sie mir folgen?«
»Nicht ganz …«
Ich war wütend: Wie konnte er es wagen, und wenn er hundertmal Quebert war? Wie konnte er es wagen, so mit jemandem zu reden, dem man den Beinamen Der Fabelhafte verliehen hatte?
Er fuhr fort: »Ich gebe Ihnen ein ganz einfaches Beispiel: Sie sind ein guter Boxer, so viel steht fest. Sie verstehen sich aufs Kämpfen. Aber sehen Sie sich doch mal an: Sie messen sich nur mit diesem armen Kerl, diesem Schmächtling, auf den Sie wie ein Besessener einschlagen, und zwar mit einer Selbstgefälligkeit, dass ich kotzen könnte. Sie messen sich nur mit ihm, weil Sie sicher sein können, dass Sie ihm
Weitere Kostenlose Bücher