Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
mit dem Finger auf mich und sagte in meine Richtung: »Stehen Sie auf, junger Freund. Stehen Sie auf, damit wir Sie gut sehen können, und sagen Sie uns, was Sie auf dem Herzen haben.«
Stolz stieg ich auf meinen Stuhl. »Ich mag Blowjobs sehr, Herr Professor. Ich heiße Marcus Goldman, und ich lasse mir gern einen blasen. Genau wie unser Präsident.«
Harry nahm seine Lesebrille ab und sah mich belustigt an. Später sollte er mir gestehen: »Als ich Sie an jenem Tag gesehen habe, Marcus, als ich diesen selbstbewussten, durchtrainierten Jungen da auf dem Stuhl habe stehen sehen, habe ich mir gedacht, Donnerwetter, was für ein Teufelskerl!« Aber jetzt fragte er mich einfach nur: »Sagen Sie uns, junger Mann: Lassen Sie sich gern von Jungs oder von Mädchen einen blasen?«
»Von Mädchen, Professor Quebert. Ich bin ein guter Heterosexueller und ein guter Amerikaner. Gott segne unseren Präsidenten, den Sex und Amerika.«
Die anderen, die bislang wie versteinert zugehört hatten, brachen in Gelächter aus und klatschten.
Harry schien hocherfreut. An meine Kommilitonen gerichtet, erklärte er: »Sehen Sie, von nun an werden alle diesen armen Jungen mit anderen Augen sehen. Sie werden sagen: Der da, das ist der Schweinepriester, der sich gern einen blasen lässt. Egal, ob er Talent hat oder andere Qualitäten, er wird für immer Mr Blowjob sein.« Er wandte sich erneut mir zu. »Mr Blowjob, würden Sie uns nun erklären, warum Sie uns diese intimen Details verraten haben, während Ihre Kommilitonen mehr Geschmack bewiesen und lieber geschwiegen haben?«
»Weil einem der Sex im Schniedelparadies zum Verhängnis werden, einen aber auch ganz nach oben bringen kann, Professor Quebert. Und nun, wo der ganze Hörsaal die Augen auf mich gerichtet hat, habe ich das Vergnügen, Ihnen allen mitzuteilen, dass ich erstklassige Kurzgeschichten für die Unizeitung schreibe, die nach dem Unterricht am Ausgang für läppische fünf Dollar pro Stück zum Verkauf steht.«
Nach dem Ende der Vorlesung stieß Harry an der Tür des Hörsaals zu mir. Die Kommilitonen hatten mir meinen Zeitungsvorrat regelrecht aus den Händen gerissen. Er kaufte mir das letzte Exemplar ab.
»Wie viel Stück haben Sie verkauft?«, wollte er wissen.
»Alle, die ich hatte, also fünfzig Stück. Und hundert sind bestellt und im Voraus bezahlt. Ich habe zwei Dollar pro Exemplar bezahlt und jedes für fünf weiterverkauft. Also habe ich soeben einen Gewinn von vierhundertfünfzig Dollar gemacht. Außerdem hat mir ein Redaktionsmitglied gerade den Posten des Chefredakteurs angetragen. Der Typ hat gesagt, ich hätte für die Zeitung gewaltig die Werbetrommel gerührt, so etwas hätte er noch nie erlebt. Ach ja, und bevor ich’s vergesse: Etwa zehn Mädchen haben mir ihre Telefonnummern zugesteckt. Sie hatten recht: Wir leben im Schniedelparadies, und man muss das Beste daraus machen.«
Lächelnd streckte er mir die Hand hin. »Harry Quebert«, stellte er sich vor.
»Ich weiß, wer Sie sind, Sir. Ich bin Marcus Goldman. Mein Traum ist es, ein großer Schriftsteller wie Sie zu werden. Hoffentlich gefällt Ihnen meine Kurzgeschichte.«
Wir wechselten einen festen Händedruck, dann sagte er: »Lieber Marcus, Sie werden es ohne Frage weit bringen.«
Ehrlich gesagt, brachte ich es an diesem Tag nicht viel weiter als bis zum Büro von Dustin Pergal, dem Dekan der Literaturfakultät, der mich wutentbrannt zu sich bestellte.
»Junger Mann«, sagte er mit erregter Näselstimme und umklammerte dabei die Armlehnen seines Sessels. »Haben Sie heute im Auditorium Äußerungen pornografischer Natur von sich gegeben?«
»Pornografisch? Nein.«
»Haben Sie etwa nicht vor dreihundert Kommilitonen den Oralverkehr verherrlicht?«
»Ich habe über den Blowjob gesprochen, Sir, in der Tat.«
Er drehte die Augen zum Himmel. »Mr Goldman, geben Sie zu, die Wörter Gott, segnen, Sex, heterosexuell, homosexuell und Amerika in einem Atemzug gesagt zu haben?«
»Ich erinnere mich nicht mehr an den genauen Wortlaut, aber das könnte hinkommen.«
Er bemühte sich, ruhig zu bleiben, und sagte dann langsam und deutlich: »Mr Goldman, bitte erklären Sie mir, in welchem obszönen Satz alle diese Wörter gleichzeitig vorkommen können.«
»Oh, Sie können beruhigt sein, Herr Dekan, das war kein obszöner Satz. Es war ganz einfach nur ein Segensspruch auf Gott, Amerika, den Sex und sämtliche Praktiken, die damit zusammenhängen. Von vorne, von hinten, rechts, links und in alle
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