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Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Titel: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Dicker
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überlegen sind. Das macht Sie zu einem Schwächling, Marcus. Einem Angsthasen. Einem Weichei. Einem Nada, einem Nichts, einem Blender, einem Schaumschläger. Sie sind ein Augenwischer. Und das Schlimmste ist: Sie geben sich damit zufrieden. Messen Sie sich mit einem echten Gegner! Bringen Sie den Mut auf! Beim Boxen kann man sich nicht in die eigene Tasche lügen. In den Ring zu steigen ist eine sehr verlässliche Methode, um herauszufinden, wie viel man taugt: Entweder man macht den Gegner platt, oder man wird plattgemacht, aber man kann sich nichts vormachen, nicht sich selbst und auch nicht den anderen. Sie aber richten es immer so ein, dass Sie sich drücken können. Sie sind das, was man einen Hochstapler nennt. Wissen Sie, warum die Zeitung Ihre Texte ganz hinten gedruckt hat? Weil sie schlecht waren. So einfach ist das. Und warum hat Reinhartz sämtliche Lorbeeren eingeheimst? Weil seine sehr gut waren. Das hätte Sie motivieren sollen, sich nach der Decke zu strecken, sich wie ein Verrückter dahinterzuklemmen und einen großartigen Text zu schreiben, aber es war ja so viel einfacher, Ihren kleinen Staatsstreich zu inszenieren, Reinhartz abzusägen und Ihre Texte selbst zu verlegen, anstatt sich selbst infrage zu stellen. Lassen Sie mich raten, Marcus: So machen Sie das schon Ihr ganzes Leben, oder täusche ich mich?«
    Stinksauer begehrte ich auf: »Sie haben keine Ahnung, Harry! Ich war auf der Highschool sehr beliebt! Ich war Der Fabelhafte !«
    »Schauen Sie sich doch an, Marcus: Sie trauen sich nicht zu fallen. Sie haben Angst vor dem Absturz. Und genau deshalb werden Sie, wenn Sie das nicht ändern, ein hohler, nichtssagender Mensch werden. Wie kann man leben, wenn man nicht fallen kann? Sehen Sie sich doch an, verdammt noch mal, und fragen Sie sich, was Sie in Burrows verloren haben! Ich habe Ihre Schulakte gesehen! Ich habe mit Pergal gesprochen! Er stand kurz davor, Sie vor die Tür zu setzen, Sie kleines Genie! Sie hätten nach Harvard, Yale, ja, in die ganze Poison Ivy League gehen können, wenn Sie gewollt hätten, aber nein, Sie mussten unbedingt hierherkommen, weil Sie nicht den Mumm haben, sich mit echten Gegnern auseinanderzusetzen. Ich habe auch in Felton angerufen und mit dem Schulleiter gesprochen, diesem armen Mann, den Sie total hinters Licht geführt haben, und er hat mir mit tränenerstickter Stimme vom Fabelhaften erzählt. Als Sie sich für Burrows entschieden haben, Marcus, da wussten Sie, dass Sie hier der Unbesiegbare würden sein können, den Sie sich zusammengebastelt hatten, dieser Mensch, der es mit dem wahren Leben nicht wirklich aufnehmen kann. Sie wussten von vornherein, dass Sie hier nicht Gefahr laufen, vom Sockel gestoßen zu werden. Denn ich glaube, das ist Ihr Problem: Sie haben noch nicht begriffen, wie wichtig es ist, fallen zu können. Und genau das wird Ihnen zum Verhängnis werden, wenn Sie sich nicht zusammenreißen.«
    Mit diesen Worten kritzelte er eine Adresse in Lowell, Massachusetts, was eine Autostunde entfernt lag, auf eine Serviette. Er erklärte mir, dass es sich um einen Boxclub handelt, in dem jeden Donnerstag offene Kämpfe im Ring organisiert wurden. Dann ging er und ließ mich mit der Rechnung sitzen.
    Am darauffolgenden Montag kam Quebert nicht zum Boxen und auch am nächsten nicht. Im Hörsaal redete er mich mit Mister an und gab sich herablassend. Irgendwann beschloss ich, ihn nach einer seiner Vorlesungen anzusprechen. »Sie kommen nicht mehr in den Boxraum?«, fragte ich.
    »Ich mag Sie, Marcus, aber wie schon gesagt: Ich halte Sie für eine Memme und einen Gernegroß, und meine Zeit ist mir zu kostbar, um sie mit Ihnen zu vergeuden. Sie haben in Burrows nichts verloren, und ich wüsste nicht, warum ich mich noch mit Ihnen abgeben sollte.«
    Wütend lieh ich mir am darauffolgenden Donnerstag Jareds Auto und fuhr zu dem Boxcenter, das Harry mir aufgeschrieben hatte. Es handelte sich um eine riesige Halle mitten in einem Gewerbegebiet. Ein furchterregender, mit Menschen vollgepackter Ort, der nach Schweiß und Blut roch. Im Hauptring tobte gerade ein selten brutaler Kampf, und die vielen Zuschauer, die an den Seilen hingen, brüllten wie Tiere. Ich hatte Angst. Ich wollte mich schon wieder verdrücken und mich geschlagen geben, aber dazu kam ich nicht mehr: Ein schwarzer Riese, dem Vernehmen nach der Besitzer des Boxclubs, baute sich vor mir auf. »Willst du boxen, whitey ?«, fragte er. Ich bejahte, und er schickte mich zum Umziehen. Eine

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