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Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Titel: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Dicker
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Viertelstunde später stand ich ihm im Ring zu einem Kampf über zwei Runden gegenüber.
    Mein Leben lang vergesse ich die Abreibung nicht, die er mir an diesem Abend verpasste: Ich dachte, ich würde sterben. Unter dem Gefeixe und Gejohle des Publikums, das begeistert zusah, wie sich ein netter kleiner Student und Grünschnabel aus Montclair die Fresse polieren ließ, metzelte er mich buchstäblich nieder. Immerhin gelang es mir meine Ehre zu retten, indem ich irgendwie bis zum Ende der regulären Kampfzeit durchhielt und – das war eine Frage des Stolzes – den Schlussgong abwartete, bevor ich k. o. auf der Matte zusammenbrach. Als ich total benommen, aber dem Himmel dankend, dass ich nicht tot war, die Augen wieder aufschlug, sah ich Harry, der sich mit einem feuchten Schwamm in der Hand über mich beugte.
    »Harry? Was machen Sie hier?«
    Er tupfte mir das Gesicht ab und lächelte. »Mein kleiner Marcus, Sie haben vielleicht Mumm! Der Kerl wiegt bestimmt dreißig Kilo mehr als Sie. Sie haben einen großartigen Kampf abgeliefert. Ich bin sehr stolz auf Sie.«
    Ich versuchte mich aufzurichten, aber er hielt mich zurück.
    »Rühren Sie sich lieber nicht. Ich glaube, Ihre Nase ist gebrochen. Sie sind in Ordnung, Marcus. Ich habe es immer geahnt, und jetzt haben Sie es mir bewiesen. Mit diesem Kampf haben Sie mir gezeigt, dass die Hoffnungen, die ich seit unserer ersten Begegnung in Sie gesetzt habe, begründet sind. Sie haben gerade bewiesen, dass Sie es mit sich selbst aufnehmen und über sich hinauswachsen können. Nun können wir Freunde werden. Eines wollte ich Ihnen aber noch sagen: Sie sind der klügste Kopf, der mir in den letzten Jahren begegnet ist, und es steht außer Frage, dass Sie ein erfolgreicher Schriftsteller werden können. Ich helfe Ihnen dabei.«

    Nach der legendären Abreibung von Lowell fing unsere Freundschaft also erst richtig an, und aus Harry Quebert, tagsüber mein Literaturprofessor, wurde schlicht und einfach Harry, mein Boxpartner an Montagabenden, mein Freund und Lehrmeister an freien Nachmittagen, an denen er mir beibrachte, wie man schrieb, letzteres in der Regel samstags. Wir trafen uns dann in einem Diner in der Nähe des Campus, setzten uns an einen großen Tisch, auf dem wir uns mit unseren Büchern und Blättern ausbreiten konnten, und dann las er meine Texte, erteilte mir Ratschläge und hielt mich dazu an, meine Sätze immer wieder zu überarbeiten und neu zu überdenken. »Ein Text ist nie gut«, erklärte er. »Es gibt einfach nur den Punkt, wo er nicht mehr so schlecht ist wie vorher.« Zwischen unseren Treffen saß ich stundenlang in meinem Zimmer und feilte an dem, was ich geschrieben hatte. Ich, der ich bisher mit einer gewissen Leichtigkeit durchs Leben gesegelt war und mich immer darauf verstanden hatte, anderen etwas vorzugaukeln, bekam plötzlich Gegenwind, und zwar massiven in Gestalt von Harry Quebert, der mich als Erster und Einziger dazu gebracht hatte, mich mir selbst zu stellen.
    Harry gab sich nicht damit zufrieden, mir das Schreiben beizubringen. Er lehrte mich auch, mich geistig zu öffnen. Er ging mit mir ins Theater, in Ausstellungen, ins Kino. Auch in die Symphony Hall in Boston. Eine schön gesungene Arie, sagte er, könne ihn zum Weinen bringen. Er fand, dass wir beide uns sehr ähnlich waren, und erzählte mir oft aus seinem Leben als Autor. Er sagte, das Schreiben habe sein Leben verändert; das sei Mitte der 1970er-Jahre gewesen. Ich erinnere mich noch, wie er mir eines Tages, als wir in die Nähe von Teenethridge fuhren, um uns einen Pensionistenchor anzuhören, die hintersten Winkel seines Gedächtnisses zugänglich machte. Er war 1941 in Benton, New Jersey, als einziges Kind einer Sekretärin und eines Arztes zur Welt gekommen. Ich hatte den Eindruck, dass er ein rundum glückliches Kind gewesen war und es über seine Jugendjahre nichts Besonderes zu berichten gab. In meinen Augen begann seine Geschichte erst dann wirklich, als er nach dem Literaturstudium an der Universität von New York eine Stelle als Literaturlehrer an einer Highschool in Queens antrat. Im Klassenzimmer fühlte er sich von Anfang an eingeengt, und er hatte nur einen einzigen Wunsch, den er schon immer gehegt hatte: Er wollte schreiben. 1972 veröffentlichte er seinen ersten Roman, von dem er sich viel erhoffte, doch der Erfolg war bescheiden. Daraufhin beschloss er, eine neue Etappe in Angriff zu nehmen. »Eines Tages«, erzählte er mir, »habe ich meine gesamten

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