Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Burrows gekostet hätte. Pergal beendete unsere Unterredung vorerst mit den Worten, er müsse über mein weiteres Schicksal nachdenken, doch am Ende blieb der Vorfall für mich ohne Konsequenzen. Erst Jahre später erfuhr ich, dass Pergal, der überzeugt war, dass ein Student, der einmal Probleme machte, immer Probleme machen würde, mich hatte hinauswerfen wollen und Harry sich für mein Verbleiben in Burrows starkgemacht hatte.
Am Tag nach dem denkwürdigen Ereignis wurde ich mit großer Mehrheit dazu berufen, bei der Unizeitung die Zügel in die Hand zu nehmen und ihr eine neue Dynamik zu verpassen. Ganz Der Fabelhafte, beschloss ich, dass diese neue Dynamik darin bestehen sollte, nicht länger die Werke von Reinhartz zu veröffentlichen, sondern mir die Titelseite von jeder Ausgabe zuzuschlagen. Und dann kam es am darauffolgenden Montag zufällig zu einer Begegnung mit Harry im Boxraum des Colleges, den ich seit meiner Ankunft fleißig frequentierte. Allerdings war es das erste Mal, dass ich Harry dort sah. Der Raum wurde sonst kaum genutzt: In Burrows boxte niemand. Der Einzige, der sich außer mir regelmäßig sehen ließ, war Jared, den ich dazu hatte überreden können, jeden zweiten Montag ein paar Runden gegen mich zu boxen, weil ich einen Partner brauchte, vorzugsweise einen ganz schwachen, den ich mit Sicherheit besiegen konnte. Und so vermöbelte ich Jared im Vierzehntagesrhythmus mit einem gewissen Genuss: nämlich dem, für immer Der Fabelhafte zu bleiben.
An dem Montag, an dem Harry den Raum betrat, war ich gerade vor einem Spiegel damit beschäftigt, an meiner Deckungsposition zu arbeiten. Er trug seine Sportbekleidung mit derselben Eleganz wie seinen Zweireiher. Beim Hereinkommen grüßte er mich von Weitem und meinte nur: »Ich wusste gar nicht, dass Sie auch gern boxen, Mr Goldman.« Dann trainierte er an einem Sack in einer Ecke des Raums. Seine Bewegungen waren sehr gut, er war wach und schnell. Ich brannte darauf, zu ihm zu gehen und ihn anzusprechen. Ich wollte ihm erzählen, wie ich nach seinem Unterricht zu Pergal zitiert worden war, wollte mit ihm über Blowjobs und Meinungsfreiheit reden, ihm sagen, dass ich der neue Chefredakteur der Unizeitung war und wie sehr ich ihn bewunderte. Aber ich war zu eingeschüchtert und traute mich nicht, das Wort an ihn zu richten.
Am nächsten Montag kam er wieder in den Boxraum und wurde Zeuge von Jareds halbmonatlicher Vermöbelung. Vom Rand des Rings aus sah er interessiert zu, wie ich meinen Kameraden nach allen Regeln der Kunst gnadenlos verdrosch. Nach dem Kampf sagte er zu mir, er halte mich für einen guten Boxer, er habe Lust, selbst wieder ernsthaft anzufangen, nicht zuletzt um in Form zu bleiben, und meine Tipps seien ihm willkommen. Er war über fünfzig, aber unter seinem weiten T-Shirt erahnte man seinen großen, kraftvollen Körper. Er bearbeitete geschickt die Boxbirne und hatte einen festen Stand, seine Beinarbeit war zwar ein wenig langsam, aber verlässlich, Deckung und Reaktion waren einwandfrei. Ich schlug ihm vor, für den Anfang ein wenig mit dem Sandsack zu trainieren, und dort verbrachten wir dann gemeinsam den Abend.
Von da an kam er jeden Montag. Ich wurde so etwas wie sein persönlicher Trainer. Bei den Boxübungen knüpften Harry und ich die ersten Bande. Oft unterhielten wir uns nach dem Training noch einen Moment, wenn wir auf den Holzbänken in der Garderobe saßen und den Schweiß trocknen ließen. Nach ein paar Wochen kam dann der gefürchtete Augenblick, als Harry zu einem Dreirunder gegen mich in den Ring steigen wollte. Selbstverständlich wagte ich es nicht, richtig zuzuschlagen. Er dagegen fackelte nicht lange, sondern verpasste mir ein paar knallende Rechte ans Kinn, die mich wiederholt auf die Matte beförderten. Lachend meinte er, es sei Jahre her, seit er das zum letzten Mal getan habe, und er habe vergessen, wie viel Spaß es mache. Nachdem er mich an dem Abend buchstäblich verprügelt und wie einen Schlappschwanz hatte aussehen lassen, schlug er vor, gemeinsam essen zu gehen. Ich führte ihn in eine Studentenklitsche in einer belebten Straße von Burrows, und dort fachsimpelten wir bei fetttriefenden Hamburgern über Literatur und Schriftstellerei.
»Sie sind ein guter Student«, sagte er. »Sie haben etwas drauf.«
»Danke. Haben Sie meine Kurzgeschichte gelesen?«
»Noch nicht.«
»Ich würde gerne wissen, was Sie davon halten.«
»Na gut, mein Freund, wenn es Sie glücklich macht, verspreche ich
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