Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Ersparnisse von der Bank abgehoben und bin ins kalte Wasser gesprungen. Ich habe mir gesagt, dass es an der Zeit ist, ein verflixt gutes Buch zu schreiben, und mich auf die Suche nach einem Haus am Meer gemacht, in dem ich ein paar ruhige Monate verbringen und konzentriert arbeiten konnte. In Aurora wurde ich fündig. Ich wusste sofort, dass es das richtige Haus war. Ende Mai 1975 habe ich New York den Rücken gekehrt und bin nach New Hampshire gezogen, um nie wieder von dort wegzugehen. Das Buch, das ich dort in jenem Sommer geschrieben habe, hat mir die Türen zum Ruhm aufgestoßen. Ja, Marcus, in dem Jahr, in dem ich nach Aurora gezogen bin, habe ich Der Ursprung des Übels geschrieben. Von den Einkünften habe ich mir das Haus gekauft, und dort lebe ich noch heute. Die Lage ist spektakulär, Sie werden sehen. Sie müssen unbedingt einmal kommen …«
Anfang Januar 2000 fuhr ich in den Weihnachtsferien zum ersten Mal nach Aurora. Damals kannten Harry und ich uns seit rund anderthalb Jahren. Ich weiß noch, dass ich Wein für ihn und Blumen für seine Frau mitbrachte. Als Harry den Riesenstrauß erblickte, sah er mich scheel an und sagte: »Blumen? Das ist aber interessant, Marcus! Haben Sie mir etwas zu beichten?«
»Die sind für Ihre Frau.«
»Für meine Frau? Ich bin nicht verheiratet.«
Da wurde mir bewusst, dass wir in all der Zeit, die wir miteinander verbracht hatten, nicht einmal über sein Privatleben gesprochen hatten. Es gab keine Mrs Harry Quebert. Es gab keine Familie Quebert. Es gab nur Quebert. Quebert ganz allein. Quebert, der sich zu Hause so sehr langweilte, dass er sich auf eine Freundschaft mit einem seiner Studenten einließ. Das wurde nun erst recht beim Anblick seines Kühlschranks klar: Kurz nach meiner Ankunft hatten wir es uns im Wohnzimmer gemütlich gemacht, einem herrlichen Zimmer mit Bücherregalen und holzvertäfelten Wänden, und Harry fragte mich, ob ich etwas trinken wolle.
»Limonade?«, bot er an.
»Gern.«
»Im Kühlschrank steht ein Krug. Ich habe sie extra für Sie gemacht. Bedienen Sie sich, und bringen Sie mir auch ein großes Glas mit. Danke.«
Ich kam der Aufforderung nach. Als ich den Kühlschrank öffnete, stellte ich fest, dass er leer war. Nur ein kümmerlicher Krug gewissenhaft zubereiteter Limonade, in der sternförmige Eiswürfel, Zitronenschalen und Minzblätter schwammen, stand darin. Der Kühlschrank eines Junggesellen.
»Ihr Kühlschrank ist leer, Harry«, sagte ich, als ich ins Wohnzimmer zurückkam.
»Oh, ich gehe gleich einkaufen. Sie müssen entschuldigen, ich bin es nicht gewohnt, Gäste zu empfangen.«
»Leben Sie allein hier?«
»Natürlich. Mit wem sollte ich schon hier wohnen?«
»Ich meine, haben Sie keine Familie?«
»Nein.«
»Weder Frau noch Kinder.«
»Nichts.«
»Auch keine Freundin?«
Er lächelte traurig. »Auch keine Freundin. Nichts.«
Dieser erste Besuch in Aurora machte mir klar, dass das Bild, das ich mir von Harry gemacht hatte, unvollständig war. Sein Haus am Meer war riesengroß, aber vollkommen leer. Harry L. Quebert, der Star der amerikanischen Literaturszene, der hoch geschätzte, von seinen Studenten vergötterte Professor, der charismatische, elegante, unnahbare Charmeur und Boxer, wurde einfach nur zu Harry, sobald er in dieser Kleinstadt von New Hampshire nach Hause kam, ein sich selbst überlassener, manchmal ein wenig trauriger Mann, der die langen Spaziergänge am Strand unterhalb seines Hauses liebte und dem es am Herzen lag, den Möwen trockenes Brot hinzustreuen, das er in einer Blechschachtel mit den eingeprägten Worten SOUVENIR AUS ROCKLAND, MAINE aufbewahrte. Ich fragte mich, was wohl im Leben dieses Mannes vorgefallen war, dass es so weit mit ihm gekommen war.
Harrys Einsamkeit hätte mich nicht weiter beschäftigt, hätte unsere Freundschaft nicht die unvermeidlichen Gerüchte ausgelöst. Die anderen Studenten, denen nicht entgangen war, dass ich bei ihm einen Sonderstatus genoss, machten Andeutungen darüber, dass Harry und ich ein Schwulenpärchen wären. Da mir die Bemerkungen der Kommilitonen keine Ruhe ließen, stellte ich Harry eines Samstagmorgens zur Rede: »Harry, warum sind Sie immer so allein?«
Er nickte, und ich sah, dass seine Augen feucht wurden. »Sie wollen mit mir über die Liebe reden, Marcus, aber die Liebe ist kompliziert. Sogar sehr kompliziert. Sie ist das Außergewöhnlichste und zugleich Schlimmste, was einem widerfahren kann. Diese Erfahrung werden Sie irgendwann selbst
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