Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Terrace Avenue, und sie kam mich oft besuchen. Sie sagte, sie käme gerne zu mir nach Hause, weil ich eine normale Familie hätte.«
»Normal? Wie meinen Sie das?«
»Ich nehme an, Sie haben David Kellergan bereits kennengelernt …«
»Ja.«
»Er war sehr streng. Kaum vorzustellen, dass Nola seine Tochter war: intelligent, sanftmütig, nett und freundlich.«
»Merkwürdig, was Sie mir da über Reverend Kellergan erzählen, Mrs Hattaway. Ich habe ihn vor ein paar Tagen kennengelernt, und auf mich machte er eher einen angenehmen Eindruck.«
»So kann er durchaus wirken, vor allem in der Öffentlichkeit. Man hatte ihn zu Hilfe gerufen, um die ziemlich verwahrloste Gemeinde von St. James auf Vordermann zu bringen. In Alabama hatte er offenbar wahre Wunder bewirkt. Und tatsächlich war die St.-James-Kirche schon bald nach seiner Amtsübernahme jeden Sonntag voll. Aber davon abgesehen lässt sich schwer sagen, wie es bei den Kellergans zu Hause wirklich zuging …«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Nola wurde geschlagen.«
»Was?«
Die Begebenheit, von der mir Nancy Hattaway nun berichtete, musste sich meinen Berechnungen nach am Montag, den 7. Juli 1975, zugetragen haben, also während der Phase, in der Harry Nola zurückgewiesen hatte.
Montag, 7. Juli 1975
Ferien. Es herrschte traumhaftes Wetter, und Nancy hatte Nola zu Hause abgeholt, um mit ihr an den Strand zu gehen. Während sie die Terrace Avenue entlangschlenderten, fragte Nola plötzlich: »Sag mal, Nancy, findest du, dass ich ein böses Mädchen bin?«
»Ein böses Mädchen? So ein Quatsch! Nein! Warum fragst du das?«
»Zu Hause kriege ich immer gesagt, dass ich ein böses Mädchen bin.«
»Was? Wer sagt so was zu dir?«
»Egal, vergiss es. Wo wollen wir baden gehen?«
»Am Grand Beach. Antworte mir, Nola: Wer sagt das zu dir?«
»Vielleicht stimmt es ja«, meinte Nola. »Vielleicht ist es wegen dem, was in Alabama passiert ist, als wir noch dort wohnten.«
»In Alabama? Was ist dort passiert?«
»Das ist nicht wichtig.«
»Du siehst traurig aus, Nola.«
»Ich bin auch traurig.«
»Wir haben Ferien! Wie kann man in den Ferien traurig sein?«
»Das ist kompliziert, Nancy.«
»Hast du Kummer? Wenn du Kummer hast, musst du es mir sagen!«
»Ich bin in jemanden verliebt, der mich nicht liebt.«
»In wen denn?«
»Darüber möchte ich nicht reden.«
»Ist es Cody, der Typ aus der Zehnten, der dich ständig anmacht? Ich wusste es ja, dass du in ihn verknallt bist. Wie ist es, mit einem Jungen aus der Zehnten zu gehen? Aber er ist doch ein Idiot, oder? Ein Vollidiot! Findet sich cool, nur weil er in der Basketballmannschaft ist. War er der, mit dem du letzten Samstag losgezogen bist?«
»Nein.«
»Wer ist es dann? Ach, komm schon, sag’s mir. Habt ihr miteinander geschlafen? Hast du schon mal mit einem Jungen geschlafen?«
»Nein! Bist du noch ganz dicht? Ich hebe mich für den Mann meines Lebens auf.«
»Aber mit wem warst du dann am Samstag zusammen?«
»Er ist schon älter … Aber egal, er wird mich nie lieben. Mich wird nie jemand lieben.«
Sie hatten den Grand Beach erreicht. Der Strand war zwar nicht besonders schön, aber immer menschenleer. Außerdem gab es dort bei Ebbe, wenn der Wasserspiegel um bis zu drei Meter sank, in den Hohlräumen der großen Felsen natürliche Wasserbecken, die sich in der Sonne erwärmten. Darin aalten sie sich gerne, denn deren Temperatur war viel angenehmer als die des Ozeans. Da sie allein am Strand waren, brauchten sie sich beim Umziehen nicht zu verstecken, und bei der Gelegenheit fielen Nancy die Blutergüsse an Nolas Brüsten auf. »Nola! Das sieht ja schlimm aus! Was hast du da?«
Nola bedeckte ihre Brust. »Sieh nicht hin!«
»Aber ich habe es schon gesehen! Du hast lauter blaue Flecken …«
»Das ist nichts weiter.«
»Von wegen! Woher kommt das?«
»Mutter hat mich am Samstag geschlagen.«
»Was? Red keinen Quatsch …«
»Es stimmt aber! Sie hat gesagt, dass ich ein böses Mädchen bin.«
»Was erzählst du da?«
»Es ist wahr! Warum will mir nie jemand glauben?«
Nancy wagte es nicht, weitere Fragen zu stellen, und wechselte das Thema. Nach dem Baden gingen sie zu den Hattaways. Nancy holte eine Heilsalbe aus dem Bad ihrer Mutter und strich sie auf die geschundenen Brüste ihrer Freundin.
»Nola«, sagte sie, »was deine Mutter betrifft … Ich denke, du solltest mit jemandem drüber reden. Vielleicht mit Mrs Sanders, der Krankenschwester aus der Highschool
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