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Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Titel: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Dicker
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meinem Kopf drängelten sich die Ideen. Es war mehr als Lust – ich hatte das Bedürfnis zu schreiben. Das war mir seit anderthalb Jahren nicht mehr passiert. Es war wie bei einem Vulkan, der plötzlich zum Leben erwacht und kurz vor dem Ausbruch steht. Ich stürzte an meinen Laptop, und nachdem ich kurz überlegt hatte, wie ich die Geschichte beginnen sollte, tippte ich die ersten Zeilen von dem, was mein nächstes Buch werden sollte:
    Im Frühjahr 2008 , rund ein Jahr nachdem ich zum neuen Star der amerikanischen Literaturszene geworden war, geschah etwas, das ich tief in meinem Gedächtnis zu vergraben beschloss: Ich fand heraus, dass mein siebenundsechzigjähriger Professor Harry Quebert, einer der angesehensten Schriftsteller des Landes, im Alter von vierunddreißig Jahren eine Beziehung zu einer Fünfzehnjährigen gehabt hatte. Und zwar im Sommer 1975 .

    Am Dienstag, den 24. Juni 2008, bestätigte eine aus dem Volk zusammengesetzte Grand Jury die Begründetheit der von der Staatsanwaltschaft erhobenen Anschuldigungen und klagte Harry offiziell wegen Entführung und zweifachen Mordes an. Als Roth mir die Entscheidung der Jury am Telefon mitteilte, explodierte ich: »Sie haben doch Jura studiert, können Sie mir erklären, worauf die sich bei diesem Schwachsinn stützen?« Die Antwort fiel knapp aus: auf die Polizeiakte.
    Infolge der Anklageerhebung gegen Harry hatten wir als seine Verteidiger fortan Zugang zu dieser Akte. Der Vormittag, an dem Roth und ich sie uns en détail zu Gemüte führten, verlief ziemlich angespannt, nicht zuletzt deshalb, weil Roth beim Sichten der einzelnen Unterlagen immer wieder seufzte: »Oje, oje, das ist nicht gut. Das ist gar nicht gut.« Ich hielt dagegen: »Das will nichts heißen. Sie müssen eben gut sein!« Er antwortete mir mit einem ratlosen Mienenspiel, das mein Vertrauen in seine Fähigkeiten als Anwalt schwinden ließ.
    Die Akte enthielt Fotos, Zeugenaussagen, Berichte, Gutachten, Verhörprotokolle. Ein Teil der Bilder stammte aus dem Jahr 1975: Es handelte sich um Fotos von Deborah Coopers Haus, von ihrer Leiche in einer Blutlache auf dem Küchenboden und von der Stelle im Wald, an der man die Blutspuren, Haare und Stofffetzen gefunden hatte. Dann machten wir eine Zeitreise, die uns dreiunddreißig Jahre weitertransportierte, und landeten in Goose Cove, wo auf dem Grund der von der Polizei ausgehobenen Grube ein Skelett in Embryonalstellung zu sehen war. An den Knochen hingen hier und da noch ein paar Fleischfetzen, am Schädel vereinzelte Haare. Bekleidet war es mit einem halb verrotteten Kleid, daneben lag die berühmte Ledertasche. Mir wurde übel.
    »Ist das Nola?«, fragte ich.
    »Ja. Und in dieser Tasche steckte Queberts Manuskript, und zwar nur das Manuskript und sonst nichts. Der Staatsanwalt sagt, kein Mädchen läuft weg, ohne etwas mitzunehmen.«
    Im Autopsiebericht war von einer erheblichen Schädelfraktur die Rede. Nola hatte einen gewaltigen Schlag erhalten, der ihren Hinterhauptknochen zertrümmert hatte. Der Gerichtsmediziner vermutete, dass der Mörder einen dicken Knüppel oder einen vergleichbaren Gegenstand verwendet hatte, etwa einen Baseballschläger oder Schlagstock.
    Anschließend gingen wir die verschiedenen Aussagen durch: die der Gärtner, Harrys und insbesondere die von Tamara Quinn unterschriebene, in der sie gegenüber Sergeant Gahalowood behauptete, sie habe seinerzeit herausgefunden, dass Harry sich in Nola vergafft hatte, doch der Beweis, den sie dafür angeblich besessen hatte, war spurlos verschwunden, und deshalb hatte ihr niemand geglaubt.
    »Ist ihre Aussage glaubwürdig?«, fragte ich.
    »In den Augen der Geschworenen offenbar schon«, schätzte Roth. »Außerdem haben wir dem nichts entgegenzusetzen. Harry hat bei seinem Verhör selbst zugegeben, dass er eine Beziehung mit Nola hatte.«
    »Na gut. Was haben wir in dieser Akte, was ihn nicht belastet?«
    Da fiel Roth etwas ein: Er kramte in den Unterlagen und reichte mir einen dicken Stoß mit einer Klebebindung zusammengehaltener Papiere.
    »Eine Kopie des berühmten Manuskripts«, erklärte er.
    Das Deckblatt war blank, es trug keinen Titel. Offenbar war der Harry erst später eingefallen. Doch mitten auf der Seite standen, mit blauer Tinte von Hand geschrieben, klar und deutlich drei Worte:
    Adieu, allerliebste Nola
    Roth holte zu einer langen Erklärung aus. Er hielt es für einen großen Fehler seitens der Staatsanwaltschaft, dieses Manuskript als Hauptbeweismittel gegen

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