Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Harry anzuführen. In Kürze würde ein grafologisches Gutachten erstellt werden, und sobald das Ergebnis bekannt würde – er ging fest davon aus, dass es Harry entlasten würde –, fiele die Anklage wie ein Kartenhaus in sich zusammen.
»Das ist das Herzstück meiner Verteidigung«, verkündete er triumphierend. »Mit ein bisschen Glück kommt es nicht einmal zum Prozess.«
»Aber was ist, wenn sich bestätigt, dass es Harrys Handschrift ist?«, fragte ich.
Roth sah mich scheel an. »Warum zum Teufel sollte das passieren?«
»Dazu muss ich Ihnen etwas Gravierendes sagen: Harry hat mir erzählt, dass er mit Nola einen Tagesausflug nach Rockland unternommen und dass sie ihn dort gebeten hat, sie allerliebste Nola zu nennen.«
Roth wurde kreidebleich. »Eines ist Ihnen hoffentlich klar: Wenn er tatsächlich der Verfasser dieser Worte ist …« Ohne den Satz zu beenden, raffte er seine Sachen zusammen und machte sich mit mir im Schlepptau auf den Weg zum Staatsgefängnis. Er war außer sich.
Wir hatten das Besuchszimmer kaum betreten, da fuchtelte Roth Harry schon mit dem Manuskript unter der Nase herum und schrie: »Hat sie zu Ihnen gesagt, dass Sie sie allerliebste Nola nennen sollen?«
»Ja«, antwortete Harry und ließ den Kopf hängen.
»Und sehen Sie, was hier steht? Auf der ersten Seite Ihres beschissenen Manuskripts? Wann hatten Sie vor, mir das zu sagen, verfluchte Scheiße?«
»Aber ich versichere Ihnen: Das ist nicht meine Handschrift! Ich habe sie nicht getötet! Ich habe Nola nicht getötet! Herrgott, das wissen Sie doch, oder? Sie wissen, dass ich kein Kindermörder bin!«
Roth beruhigte sich ein wenig und setzte sich. »Das wissen wir, Harry«, sagte er. »Aber all diese Zufälle sind verwirrend: Nolas Flucht, diese Widmung … Ich muss Ihren Arsch vor einer Jury aus braven Bürgern verteidigen, die Sie am liebsten noch vor Prozessbeginn zum Tode verurteilen würde.«
Harry sah sehr schlecht aus. Er stand auf und ging in dem kleinen Betonzimmer im Kreis. »Allmählich macht das ganze Land Front gegen mich. Schon bald werden mir alle ans Leder wollen. Wenn es nicht längst so weit ist … Die Leute titulieren mich mit Worten, deren Tragweite sie überhaupt nicht ermessen: Pädophiler, Perverser, Geistesgestörter. Sie verunglimpfen meinen Namen und verbrennen meine Bücher. Aber Sie müssen wissen, und ich wiederhole es Ihnen gegenüber zum letzten Mal: Ich bin kein Triebtäter oder dergleichen. Nola war die einzige Frau, die ich je geliebt habe, und zu meinem Pech war sie erst fünfzehn. Wo die Liebe hinfällt, kann man sich verdammt noch mal nicht aussuchen!«
»Trotzdem war sie erst fünfzehn!«, echauffierte sich Roth.
Harry wirkte frustriert. Er wandte sich an mich. »Denken Sie genauso, Marcus?«
»Harry, was mich verwirrt, ist die Tatsache, dass Sie mir davon nie etwas erzählt haben … Wir sind jetzt seit zehn Jahren befreundet, aber Sie haben Nola mir gegenüber nie erwähnt. Ich dachte, wir stünden uns nahe.«
»Was, um Himmels willen, hätte ich denn zu Ihnen sagen sollen? ›Übrigens, mein lieber Marcus, ich rede nicht gern darüber, aber als ich 1975 nach Aurora kam, habe ich mich in eine Fünfzehnjährige verliebt, die mein Leben verändert hat, drei Monate später aber, an einem Spätsommerabend, spurlos verschwunden ist, und darüber bin ich nie wirklich hinweggekommen‹?« Er trat so fest gegen einen der Plastikstühle, dass er gegen die Wand krachte.
»Harry«, sagte Roth, »wenn Sie es nicht waren, der diese Worte geschrieben hat – und wenn Sie das sagen, glaube ich Ihnen –, haben Sie dann eine Idee, von wem sie stammen könnten?«
»Nein.«
»Wer wusste von Ihnen und Nola? Tamara Quinn behauptet, sie hätte von Anfang an Bescheid gewusst.«
»Keine Ahnung! Vielleicht hat Nola einer Freundin von uns erzählt …« Dann schwieg er. Stille kehrte ein. Harry wirkte so bedrückt und mitgenommen, dass es mir fast das Herz zerriss.
»Na los«, hakte Roth nach. »Ich spüre doch, dass Sie mir nicht alles erzählt haben. Wie soll ich Sie verteidigen, wenn Sie mir Informationen vorenthalten?«
»Ich … Ich habe anonyme Briefe bekommen.«
»Anonyme Briefe?«
»Kurz nach Nolas Verschwinden habe ich anonyme Briefe erhalten. Sie steckten jedes Mal im Türrahmen, wenn ich nach Hause kam. Damals jagte mir das eine Riesenangst ein. Es bedeutete nämlich, dass mich jemand ausspionierte und mein Kommen und Gehen überwachte. Irgendwann war meine Angst so groß, dass ich
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