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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Arango
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Kratzefinger auf Marthas Badeschuhe. Henry stieg das Blut den Hals hoch, als er seinen ärgerlichen Fehler bemerkte. Er hatte nicht nachgedacht. Logischerweise war Martha mit den Badeschuhen ins Wasser gegangen, wie konnten sie da am Strand liegen?
    Â»Das wundert mich ehrlich gesagt auch«, entgegnete Henry, »meine Frau trägt immer ihre Gummisandalen, wenn sie ins Wasser geht, wegen der spitzen Steine. Sie hat empfindliche Füße.«
    Â»Es kann sein«, warf Jenssen ein, dem Henrys stoischer Präsens bereits aufgefallen war, »dass ihre Schuhe angespült und dann vom Wind über den Strand geweht wurden. Deshalb haben Sie die auch gefunden.«
    Eine gute Erklärung. Der Bursche wurde Henry immer sympathischer. Er beschloss, etwas zu riskieren.
    Â»Sie kennen sich doch mit so was aus, Herr Jenssen. Kann es sein, dass meine Frau entführt wurde?«
    Der Polizist zog die Augenbrauen zusammen. »Hat sich denn jemand gemeldet?«
    Henry schüttelte den Kopf.
    Â»Würden Sie Lösegeld für Ihre Frau zahlen?«, fragte die böse Kollegin.
    Diese Frage war ein Indiz dafür, dass ihr Geruchssinn deut lich besser entwickelt war als ihre Großhirnrinde. Natürlich würde er zahlen! Keine Summe wäre zu groß, um seine Frau zurückzubekommen.
    Â»Geld spielt keine Rolle«, antwortete Henry bedachtsam.
    Â»Hat Ihre Frau einen Abschiedsbrief hinterlassen?«
    Oh, diese ungebildeten Menschen! Sie kannten Martha nicht. Sie hätte ihren Selbstmord nicht schriftlich angekündigt oder gar begründet. Was sie tat, geschah ohne Begründung, alles war l’art pour l’art bei ihr. Außerdem widersprach es Marthas feinem Gespür für Dramaturgie, etwas anzukündigen, was dann ohnehin passierte.
    Â»Nein. Sie wollte nicht Abschied nehmen, ganz sicher nicht. Nicht von mir, nicht vom Leben.«
    Â»Hatte sie Depressionen, nahm sie Medikamente?«
    Â»Sie lacht viel und isst gern Fisch, wenn Sie das meinen.«
    Der Polizist strich sich nachdenklich durchs buttergelbe Haar. Humor hatte er keinen. »Wenn ich das mal so direkt fragen darf, Sie hatten keine ehelichen Probleme oder vor, sich scheiden zu lassen, oder? Is nur so ne Frage.«
    Henry betastete die Haut unter seinem rechten Auge. Das Taubheitsgefühl kehrte zurück.
    Â»Kein Gedanke. Niemals.«
    Anschließend führte Henry die beiden durch alle Räume des Hauses. Er sprach leise, antwortete auf jede Frage, schilderte detailliert und wahrheitsgemäß die Suche nach seiner Frau, erzählte, wie er noch am Vorabend für sie gekocht hatte, und brach in Tränen aus, als er vor ihrem leeren Bett stand.
    Henry sprach weiterhin im Präsens von Martha, als sei sie noch am Leben. Abschließend führte er die beiden durch den Keller, die Stallungen, die Scheune, den Garten und die Kapelle. Er gab den Polizisten einen alten Karton für Marthas Wäsche und half noch, ihr Fahrrad in den Polizeiwagen zu schieben.
    Jenssen gab Henry seine Karte.
    Â»Bitte informieren Sie mich umgehend, wenn Sie irgendeine Spur von meiner Frau finden«, sagte Henry zum Abschied. »Egal, was es ist.«
    Nachdem sie fort waren, holte er einen schweren Vorschlaghammer aus der Scheune und begann, die Wand hinter Marthas Bett zu zertrümmern.

IX
    E twas stimmte nicht an Henrys Geschichte. Martha war nicht am Strand ertrunken. Betty glaubte, dass sie nicht von den Klippen nach Hause zurückgekehrt war. Fest stand, dass ihr Subaru noch immer verschwunden war, wer weiß, vielleicht rostete er auf dem Grund des Meeres mit Martha auf dem Fahrersitz. Damit war sie selbst in die Sache verwickelt. Streng genommen war sie sogar mitschuldig an Marthas Tod, denn sie hatte ihr ja den Mann genommen, oder war es das Schicksal gewesen? Sollte der Wagen gefunden werden, würden eine Menge unangenehmer Fragen folgen. Betty beschloss, die Sache erst einmal von der positiven Seite zu sehen. Durch Marthas Tod war der Weg frei für ein Leben mit Henry und dem Kind.
    Sie erinnerte sich, dass Henry einmal sagte, dass, wer seine Träume wahrmache, auch mit ihnen leben müsse. Das klang aus seinem Mund so, als sei Glück eine traumatische Erfahrung, die man niemals mehr vollständig verarbeiten könne. Er selbst habe keine Träume mehr, wie Henry hinzufügte, er habe alles erreicht. Sonst verriet Henry kaum etwas von sich. Von seiner Vergangenheit redete er nie, als sei sie etwas

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