Die Wahrheit und andere Lügen
einen Kaffee?«
Alles war wieder offen. Niemand verdächtigte ihn, keiner wollte ihn verhaften, die Zahnbürste und das Buch brauchte er nicht, er würde als freier Mann nach Hause fahren. Das Kunstlicht fiel von der Decke des Sektionsraumes auf die geöffnete Dame wie ein Sonnenstrahl, der nach dem Gewitter durch die Wolken dringt, und Henry empfand Mitgefühl für die Tote. Was die Ãrmste wohl ins Wasser getrieben hatte? War sie lebensmüde gewesen oder todkrank? Hatte sie Kinder? Wer wohl jetzt vergeblich auf sie wartete?
Wie sich später herausstellen sollte, war die Tote eine frühpensionierte Beamtin, die beim Versuch, eine Möwe zu fotografieren, von einer Brücke gestürzt war.
Henry spendierte Jenssen einen Kaffee am Automaten im Korridor. Sie standen ein Weilchen stumm nebeneinander, jeder in seinen Gedanken, und nippten an ihren Plastikbechern.
»Menschen verschwinden«, sagte Jenssen nach einer ganzen Weile. Er trank einen Schluck, zerknüllte den Becher in der Faust.
»Und manche kommen wieder.«
Henry zuckte zusammen. »Was meinen Sie damit?«
»Nun, erst kürzlich taucht bei uns so ein Kerl auf, der war immerhin vierzehn Jahren weg, komplett verschwunden, weil seine Kinder ihm auf die Nerven gingen, wie er sagt.«
Jenssen kicherte, Henry blieb ernst. Wer weiÃ, wie schwer das Verschwinden ist, findet so was nicht komisch.
»Seit zehn Jahren ist er schon für tot erklärt, seine Frau hat den Nachbarn geheiratet, und jetzt kommt der Stänker wieder und will seine Lebensversicherung von ihr zurück. Er hat seine Frau angezeigt â ist das zu fassen?«
Henry konnte den Mann gut verstehen, erwiderte aber nichts darauf. Aus dem Ordner zog Jenssen ein Stück Papier und reichte es Henry. Offenbar war es aus einem Buch gerissen worden. Vier gedruckte Worte einer Textzeile waren sichtbar.
»Das hier haben wir in der Jacke Ihrer Frau gefunden.«
Henry setzte sich die Lesebrille auf, die er extra für die Untersuchungshaft mitgebracht hatte. Mit Kugelschreiber waren Worte über den gedruckten Text gekritzelt, mehrfach hatte die Kugelspitze das Papier durchstochen, offenbar war die Unterlage weich gewesen. Es war eine Frauenhandschrift, weich und ohne spitze Haken.
»Da steht: Falls ich irgendetwas tun kann , und eine Telefonnummer.« Er gab Jenssen den Zettel zurück. »Das ist nicht Marthas Schrift.«
»Wir haben angerufen. Die Nummer gehört einer Sonja Reens.«
Henry sah die junge Frau vor sich, wie sie in Marthas Parka frierend am Meer stand.
»Sie ist die Tochter unserer Bürgermeisterin, Elenor Reens. Ich bin ihr am Strand begegnet, als ich meine Frau gesucht habe.«
»Richtig. Sie lässt Sie grüÃen und hat mich gefragt, wie es Ihnen geht.«
»Und«, fragte Henry, »wie geht es mir?«
»Ich möchte es mir nicht mal vorstellen«, antwortete Jenssen und deutete auf den Zettel in Henrys Hand. »Kommt Ihnen der Text bekannt vor?«
Henry las laut die gedruckten Worte auf dem Zettel:
»immer allein als nie.«
Er hatte nicht das Atom einer Ahnung, was dieser Quatsch bedeuten sollte.
»Sagt Ihnen das nichts?«
In Jenssens Blick loderte Triumph, als sei er soeben auf dem Planeten der Affen gelandet. Eine innere Stimme gab Henry ein, dass er den Satz besser kennen sollte, also beschloss er â wie so oft â, die gute alte Heuristik zu bemühen und ins Dunkle zu raten. Viel zu selten übrigens machen wir Gebrauch von unserem verborgenen Sinn für Vermutungen. Jenseits von Verstand und Bewusstsein rechnet ein Heer anonymer Neuronen für uns. Aus elektrischen Ladungen werden Erinnerungen, ein tief verborgenes Wissen entsteht und erzeugt die Visionen des Unbewussten. Man muss ihnen nur vertrauen.
»Von mir. Der Satz ist von mir.«
Jenssen war ebenso überrascht wie enttäuscht. »Bingo«, sagte er anerkennend. »Ich hab ihn auch gleich erkannt und nachgeschaut. Seite einhundertzwei, unten. Es fehlt nur das Wort besser . Besser immer allein als nie. Das ist aus Ihrem Roman, Herr Hayden. Besondere Schwere der Schuld . Ich finde, das ist Ihr bestes Buch.«
»Alle Achtung«, raunte Henry anerkennend, »da sieht man mal, wie wertvoll ein aufmerksamer Leser ist.«
XI
E r beschloss nachzuschauen. Am Kilometerstein acht bog er Richtung Klippen ab â statt nach Hause zu fahren, was viel vernünftiger gewesen wäre, weiÃ
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