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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Arango
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einer Stufe ab, ging auf Henry zu und streckte ihm die Hand entgegen. Sein Blick glitt kurz über den Maserati, dann auf Henrys Schuhe.
    Â»Was ist passiert?«
    Henry besah sich seine blutverschmierten Schuhe. Siehst du, dachte er, das hast du vergessen. So schnell geht das.
    Â»Ein Unfall vor mir auf der Straße. Das ist nicht mein Blut. Wollen wir reingehen?«
    Jenssen verzichtete auf weitere Fragen. Ein überaus angenehmer Zug an ihm. »Sie müssen das nicht tun«, sagte er zu Henry auf der Treppe, »wir können auch einfach die Ergebnisse der DNA-Analyse abwarten.«
    Â»Klar können wird das. Aber ich möchte meine Frau sehen. Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie mich gleich angerufen haben. Sieht sie schlimm aus?«
    Â»Ich hab sie auch noch nicht gesehen. Ich habe, ehrlich gesagt, noch nie eine Wasserleiche gesehen.« Jenssen kratzte sich. »Aber für alles gibt es ein erstes Mal, was?«
    So wünscht man sich doch einen Beamten, dachte Henry. Ihm ist nichts Menschliches fremd, und doch bleibt er ein feiner Kerl, ein mitfühlender Mensch, offen für simple Empfindungen und nicht gleichgültig gegenüber dem Leid der anderen.
    Â»Wo ist denn Ihre charmante Kollegin, die so ein bisschen aussieht wie …«
    Â»Ein Opossum?« Jenssen lachte laut. Henry nickte. »Die sieht wirklich haargenau so aus wie ein Opossum. Die kommt nie in die Rechtsmedizin, sie meint, es stinkt ihr zu sehr.«
    Jenssen erkannte seinen Lapsus, wurde wieder ernst. »Wollen Sie’n Kaffee?«
    Â»Vielleicht später«, entgegnete Henry. »Bringen wir es hinter uns.«
    Jenssen ließ Henry den Vortritt. Henry vermutete, dass Jenssens ausgesucht höfliche Behandlung weniger Respekt als vielmehr Verhörstrategie war. Surrend öffnete sich eine verriegelte Tür, sie durchquerten einen Korridor, wo ein Kaffeeautomat brummte, und hielten vor einer Glasscheibe, hinter der eine übellaunige Frau saß. Kein Wunder, dass man schlechte Laune kriegt, wenn man in diesem Glaskasten den ganzen Tag wie ein Affe beglotzt wird. Der Korridor roch nach Reinigungsmittel und Brühkaffee, und da lag noch etwas Unbestimmbares in der Luft, das vom Untergeschoss aufstieg.
    Henry unterschrieb erneut ein Formular, warf einen Blick zurück ins Tageslicht, das durch die Fenster fiel und trat durch eine blaue Flügeltür. Eine Treppe führte ins Untergeschoss zu einer Art Schleuse, wo Jenssen Henry grüne Plastiküberschuhe und einen Kittel reichte. Während Henry den Kittel überstreifte, bemerkte er, wie ihn der andere beobachtete. Vermutlich rechnete er mit Henrys Geständnis beim Anblick der Leiche. Aber so leicht würde er es ihm nicht machen.
    Â»Was ist mit Ihrem Handgelenk?«
    Eine verzögerte Frage, dachte Henry. Die Wunde war Jenssen also schon vorhin aufgefallen. Die Frage kam nachgereicht als Überraschung. Teil der Taktik, dachte Henry, muss ich mir merken.
    Â»Mich hat was gebissen.«
    Henry betrat hinter Jenssen den Hades des Sektionsraums. Der Geruch von verwesendem Fleisch drang ihm in die Nase. Hier ist der Ort, wo der Tod dem Leben freudig zur Hilfe eilt , stand auf einer Inschrift an der Wand. Jenssen legte Henry die Hand auf die Schulter.
    Â»Darf ich Ihnen einen Rat geben?«
    Â»Ich bitte darum.«
    Â»Atmen Sie durch die Nase, dann haben Sie’s hinter sich.«
    Es erfordert keinerlei Vorkenntnisse, um zu wissen, wie der Tod riecht. Kein anderer Geruch kommt ihm gleich. Er weckt eine unschöne Ahnung, die ins Bewusstsein zurückkehrt, wenn man einen Sektionsraum betritt.
    Keine Leiche ist schön. Henry sah zuerst die Füße. Die Zehen waren schwarz und dick aufgequollen. Der Leichnam lag seltsam massig auf dem äußersten von vier großen, sauberen Edelstahltischen unter einem vertikalen Licht. Die Brust war bereits geöffnet, der Kopf lag auf einem Plastikklotz, etwas Dunkles bedeckte das Gesicht. Am Tisch stand eine Frau mit kurzem Haar in fleckigem Kittel, etwa fünfzig Jahre alt, und legte etwas Weiches in eine Stahlschale, von dem wir nicht wissen wollen, was es ist. Die Gerichtsmedizinerin hatte die Nüchternheit des Sektionsraumes angenommen, um hier dem Tod freudig zur Hilfe zu eilen. Ein paar Schritte vom Sektionstisch blieb Jenssen erneut stehen und hielt Henry fest.
    Â»Warten Sie bitte einen Moment.«
    Er eilte voraus und sprach leise mit der Pathologin. Henry sah ihren kurzen Blick, sie

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