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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Arango
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nickte, nahm ein grünes Tuch und legte es über die geöffnete Brust der Leiche. Jetzt bemerkte Henry die geschwollene Hand, die seitlich unter dem Tuch herausragte. Die knusprig schwarze Haut an den Fingern war aufgeplatzt, Hautlappen hingen seitlich abgelöst, Teile des Knochens waren zu sehen. Der Ringfinger fehlte.
    Jenssen kam zurück und stellte sich zwischen Henry und die Leiche. Er war merklich blasser geworden.
    Â»Sie müssen entschuldigen, hier hat keiner gewusst, dass Sie kommen. Sie sehen ja selbst, die Leiche ist schon geöffnet, und ihr Gesicht ist …«, Jenssen fand das Ende des Satzes nicht, »… Sie sollten das besser nicht sehen.«
    Â»Bitte. Ich will zu meiner Frau.«
    Jenssen trat einen Schritt beiseite, und Henry ging an ihm vorbei zum Tisch. Die Pathologin schob etwas unter den Torso, das wie ein Spatel aussah. Der Schädel war aufgesägt, das Gehirn lag in einer Schale daneben. Das Gesicht war von der Stirn abwärts heruntergezogen worden wie bei einem gehäuteten Felltier. Der Ringfinger lag abgetrennt in einem Schälchen neben dem Gehirn, ein Goldring schimmerte daran. Die Pathologin griff mit ihren Latexhandschuhen ins kupfergrüne Haar der Leiche und zog das Gesicht mit einem unsentimentalen Ruck zurück auf den Schädel.
    Â»Ihre Frau ist ertrunken«, erklärte die Pathologin.
    Meine Frau? , dachte Henry. Das Gesicht der Wasserleiche ähnelte einer Pizza quattro stagioni, wie man sie beim Italiener an der Ecke so gerne isst, belegt mit Zutaten der Saison. Eine teigige schwarze Zunge quoll aus dem Mund, die Augen waren zu verdorrten Oliven zerfallen, die Nase hatte sich artischockengleich entfaltet und zwei schwarze Löcher freigegeben. Nichts davon ähnelte Martha. Nicht einmal entfernt waren ihre Züge zu erkennen. Dieses vom Zerfall entmenschlichte Gesicht und der übrige massige Körper gehörten einer fremden Frau.
    Obwohl bereits vollkommen sicher, schaute Henry noch auf den aufgeplatzten Finger mit dem Ring in der Schale. Der Ring war breit und unschöner als der Ring, den Henry Martha im Standesamt übergestreift hatte. Ein DNA-Test erübrigte sich. Sie war es nicht.
    Henry wendete sich ab, schüttelte den Kopf. »Das ist nicht meine Frau.«
    Jenssen nickte zustimmend, als habe Henry gerade seine Frau identifiziert. »Richtig. Sie sieht nicht mehr aus wie Ihre Frau, aber sie ist es.«
    Herrgott im Himmel, dachte Henry, wenn ich die Wahrheit sage, glaubt mir keiner. »Was hatte sie an?«, fragte er, wohl wissend, dass dies ein kapitaler Fehler sein konnte.
    Â»Sie war vollständig bekleidet.«
    Â»Wie kann sie dann meine Frau sein? Ich habe doch ihre Kleidung am Strand gefunden. Außerdem ist sie zierlich, und diese Dame da …«, Henry deutet auf die Leiche, »… ist massig. Und der Ring an dem Finger da ist nicht Marthas Ehering.«
    Jenssen blickte in seinen Ordner. »Hier steht nichts von einem Ring.«
    Jenssen blätterte, als würde sich auf diese Weise der fehlende Hinweis materialisieren, blickte dann zur Pathologin.
    Â»Der Ring war unter der Epidermis der Handfläche verborgen«, kommentierte die nüchtern.
    Henry hob die Hand und zeigte den Ehering.
    Â»Ich habe damals unsere Ringe ausgesucht, sie sind identisch und schmaler. Wir haben unsere Namen eingravieren lassen. In ihrem Ring muss mein Name stehen.«
    Zum ersten Mal in Jahren streifte er den Ring ab, es war ein wenig schmerzhaft, reichte ihn Jenssen. Der betrachtete die innen liegende Gravur von Marthas Namen, trat dann an den Tisch, beugte sich über den Finger in der Schale.
    Die Pathologin nahm eine Zange und zog den Ring vom Knochengewebe. Auch kein schönes Geräusch. Sie spülte den Ring unter klarem Wasser ab und reichte ihn Jenssen. Um die Innenseite zu sehen, musste Jenssen den Ring ganz nah ans Auge führen. Der Ring roch sicherlich nicht gut und trug keine Inschrift. Scham und Ärger über seine voreilige und unprofessionelle Benachrichtigung ließen Jenssen erröten. »Verdammt …«, stammelte er, »das tut mir jetzt echt leid.«
    Â»Aber nicht doch.« Henry nutzte die Gelegenheit, die Herzensgüte des Kriminalisten zu belohnen, schließlich kann sich jeder mal irren. »Wissen Sie was, Jenssen«, sagte er und legte ihn die Hand auf die Schulter, »Sie haben mich überzeugt, dass meine Frau noch lebt. Ich danke Ihnen dafür. Wollen Sie

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