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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Arango
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dem Lauf, und Grübelei brachte nicht weiter. Ungehalten schnippte er eine angebissene Fritte auf den Teppich und sah sich nach dem Kellner um.
    In ihrem Sessel an der Säule sitzend, sah Honor Eisendraht, wie Betty mit einer indiskutabel bunten Handtasche unter dem Arm durch das Foyer eilte, um die Marmortreppe zu den Damentoiletten zu erreichen. Betty weinte. Ihr Gesicht war auffällig blass, kein provozierender Hüftschwung wie sonst, sie taumelte fast die Treppen hinunter. Es musste etwas vorgefallen sein, ganz bestimmt etwas Unangenehmes.
    Honor hatte gerade den stickigen, viel zu kleinen Seminarraum in der ersten Etage des Hotels verlassen, um einen Kaffee mit Baileys zu trinken. Dieses sogenannte Seminar zur Numerologie war eine komplette Farce zum Apothekerpreis gewesen. Für das Geld darf man mehr erwarten als eine schweinsköpfige Frau mit Zeigestock, die von banalen Quersummen faselt, von kosmischen Zusammenhängen zwischen Telefonnummern und verborgenen Eigenschaften des Charakters. Wer glaubt denn solchen Unsinn?
    Honor hatte gehofft, im Seminar auf jemand Gescheiten zu treffen, einen spirituellen Menschen, mit dem sie über die umfassende Bedeutung der Turmkarte, der sechzehnten der großen Arkana des Tarot, sprechen konnte. Bereits zum zweiten Mal war ihr die Karte erschienen. Es musste etwas bedeuten. Aber da waren nur Wichtigtuer und Nichtskönner.
    Wie alle Eingeweihten längst wissen, ist die Turmkarte eine drastische Karte. Ein Blitz aus schwarzem Himmel schlägt in einen Turm, ein Jüngling und seine Holde stürzen brennend in den Tod. Von Vernichtung und Neubeginn kündet die Karte, gleichbedeutend mit Trennung und Endlichkeit. Sie zu ignorieren, ist sträflicher Leichtsinn. Doch zuweilen sind die Anzeichen des bevorstehenden Ereignisses verborgen und in ihrer Tragweite nicht absehbar. Gerade deshalb muss man auf alles vorbereitet sein, mit geschärften Sinnen suchen nach dem entscheidenden Hinweis in der gestaltlosen Masse des Alltäglichen.
    Honor ließ den Kaffee stehen, legte einen größeren Geldschein auf den Tisch, nahm ihre Handtasche und schritt über den azurblauen Teppich in die Richtung, aus der Betty gekommen war. Wenn es Moreany ist, befahl sie sich selbst, dann hat sich das mit der Turmkarte, und ich kündige.
    Am Fenstertisch der holzgetäfelten Bar spielte Henry Hayden nervös an seinem Hemdsärmel herum. Der Ärmste sah blass und schmerzgezeichnet aus. Wie unerträglich musste der Tod seiner Frau für ihn sein. Es gibt keinen Menschen, der um mich trauern wird, wenn ich einmal nicht mehr bin, und das ist allein meine Schuld, dachte sie. Sie wollte zu ihm gehen, ihn umarmen, aber der Kellner trat an seinen Tisch. Henry zahlte, Honor sah etwas in seinem Blick, dass sie davon abhielt, ihm ihr Beileid auszusprechen.
    Natürlich besteht kein Zusammenhang zwischen der Quersumme einer Telefonnummer und den verborgenen Eigenschaften des Charakters, wiederum kann es keine zufäl ligen Begegnungen in Hotels geben, sondern nur unaufmerksame Beobachter. Honor begriff im Winkel der Oyster Bar, dass die schicksalhafte Wendung, welche die Turmkarte angekündigt hatte, sich gerade vollzog. Bevor Hayden sie entdecken konnte, saß sie schon wieder im Sessel neben der dicken Säule, von dem aus man das gesamte Foyer überschauen konnte, und verbarg das Gesicht hinter einer Zeitung.
    Henry kam aus der Bar. Er schüttelte Hände, signierte ein Buch an der Rezeption, sprach kurz mit einem Gast, blickte dabei diskret in Richtung Toiletten. Sie kam nicht zurück. Kurz darauf verließ er allein das Hotel. Er drehte sich nicht noch einmal um.
    Wie energisch er war, fand Honor. Sein Raubtiergang, die athletische Figur mit den breiten Schultern beeindruckten sie immer wieder. Herz, stell dich oder brich, hatte sie in Besondere Schwere der Schuld gelesen. Bis sie Henry zum ersten Mal sah, hatte sie geglaubt, ein Literat müsse gebückt gehen unter der Last seiner Gedanken, von einer inneren Kraft geschoben oder von einem dunklen Zerwürfnis durch die Welt gezerrt. Der wahre Künstler ist krank, fand Fernando Pessoa und wartete zeit seines Lebens auf die Abgrundkutsche. Ein blinder Borges haderte mit Gottes Ironie in der unendlichen Bibliothek der Zeichen – aber Henry Hayden blieb sportlich, war dabei die Personifikation von Disziplin und Selbstkontrolle. Und immer Künstler. Ganz fabelhaft.
    Der Geldschein lag noch

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