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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Arango
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kannte er bereits. Er steckte Helga einen Umschlag mit Geld zu, um heimlich einen neuen Motor für die »Drina« zu kaufen.
    Â»Warte die Lottozahlen ab«, flüsterte er ihr ins Ohr, »dann füll einen Schein aus und gewinn maximal fünf Richtige, verstanden?«
    Helga verstand und küsste ihm beide Hände. Henry holte einen weiteren Karton aus dem Maserati und stieg damit über die Hintertreppe des Ladens in die Wohnung zu Obradin hinauf. Weil er beide Hände voll hatte, klopfte er nicht an, sondern drückte die Klinke mit dem Ellenbogen herunter.
    Â»Hey, was ist los mit dir, alter Freund?«, fragte er und stellte den Karton und das Geschenk auf das Bett. Henry entging nicht, dass eine Hälfte des Ehebettes unberührt war, seine Helga schlief also gerade woanders.
    Â»Ich hab dir was zum Rasieren mitgebracht.«
    Der Serbe stand reglos in einem Berg gerauchter Zigarettenstummel, etwa so groß wie ein Ameisenhaufen.
    Â»Waff willft du?«
    Henry beäugte respektvoll die Zahnlücke. »Kolossal. Da kannst du Wäsche drin aufhängen. Jetzt pass mal auf …« Er zog einen solarbetriebenen Marderschreck aus dem Karton. »Ultraschall. Das ist die Lösung. Hör mal.«
    Henry schaltete den Apparat ein. IIEEEEK, ein ultra-unerträglicher Ton erschallte, beide Männer hielten sich die Ohren zu. Henry schaltete den Kasten wieder aus.
    Â»Und das ist das Problem. Ich weiß nicht, welche Frequenz man braucht, um nur den Marder zu vertreiben und nicht den Hund.«
    Â»Unf?«, fragte Obradin desinteressiert.
    Â»Hey, du kennst doch Poncho, er ist sensibel, genau wie du, er wird verrückt, wenn ich diese Höllenmaschine anschalte. Hilf mir, sie einzustellen, wir bauen das Ding auf, vertreiben den Marder und rauchen eine. Der kommt nie wieder. Waff meinft du?«
    Henry lachte laut. Er war von jeher der Überzeugung, dass Mitleid den Heilungsprozess nur verzögert. Dem Kranken hilft ein kleiner Scherz schneller auf die Beine als ein Mitleidszäpfchen.
    Tatsächlich lächelte Obradin. Henry hielt ihm mit der Hand den Mund zu. »Sag jetzt nichts, du serbischer Bohneneintopf, sonst muss ich wieder lachen. Komm. Wir fahren zum Zahnarzt.«
    Es war die beste Privatpraxis weit und breit. Obradin bekam neue Zähne. Zuerst Provisorien, die keinesfalls schlecht aussahen, nur ein wenig hasenartig. Später setzte ein Kie ferchirurg Implantate ein, zwei wahre Kunstwerke, jedes teuer wie ein Mittelklassewagen, auch der Backenzahn wurde ersetzt und ein Stück Knochen aus dem Gaumen entnommen, um den Kieferknochen zu rekonstruieren. Selbstredend übernahm Henry die Kosten und sprach nie mehr davon. Wie gesagt, Henry konnte groß sein.
    * * *
    Sechzig Kilometer weiter südlich wurde Gisbert Fasch von der Intensivstation in ein Vierbettzimmer verlegt. Schwer verletzt und bei klarem Verstand. Die gebrochenen Beine und ein Arm an einem Alugalgen baumelnd, ähnelte er dem bedauernswerten Gregor Samsa, der sich eines Morgens in einen Käfer verwandelt im Bett vorfand.
    Brauner Eiter floss Fasch aus der Brust durch einen Schlauch in eine kleine Maschine neben seinem Bett. Sie pumpte Sekret ab, das sich in einem transparenten Plastikbeutel sammelte. Der Holm der Rückenstütze, der in seine Brust eindrang, war voller Bakterien gewesen. Einmal alle zwölf Stunden wurde der volle Beutel von einer Krankenschwester ausgetauscht, die scheinbar nur für diese Tätigkeit qualifiziert und entsprechend gelaunt war. Sie wechselte ihm auch die Windeln, wusch und cremte ihm den Hintern, ihre kräftigen Finger an seinem Skrotum waren unbestreitbar der Höhepunkt des Tages.
    Jeder Atemzug schmerzte. Ein schwer zu beschreibender Geschmack war in seinem Mund, es wisperte in seiner Lunge. Da hatte sich mächtig was entzündet, er konnte es riechen. Penetrant hohes Pfeifen drang unablässig durch die Wände des Krankenzimmers. Keiner außer ihm schien es zu hören.
    Drei weitere Männer lagen in diesem Zimmer, sie alle trugen Windeln. Wer kein Einzelzimmer hat, lernt viel über andere. Zum Beispiel, wie Scheiße in Windeln riecht. Der Mensch, so erkannte schon Leonardo da Vinci, sei ein Durchgang für Speisen und Getränke, am Ende bleiben meistens nur gefüllte Latrinen.
    In der künstlichen Dämmerung des Raumes schwirrte eine Fliege umher. Fasch sah sie doppelt, er sah alles doppelt, seit er aus der Narkose erwacht war.

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