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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Arango
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Vom Eitergeruch angelockt, zog sie ihre Bahnen, ließ sich hier und da nieder, naschte am Fußgangrän seines linken Bettnachbarn, eines anonymen Diabetikers, der nur stöhnte, dann verschwand sie in der brunnenförmigen Mundhöhle des reglosen Mannes zur Rechten, um Eier auf seine Zunge zu legen.
    Gisberts Kopf war infolge des Schädelbruchs in einer Kopfkralle fixiert. Nur mit einem kleinen Taschenspiegel konnte er seitenverkehrt seine Umgebung sehen. Um nicht alles doppelt zu sehen, musste er ein Auge schließen. Er hätte gern ein Bett am Fenster gehabt und die Beine ausgestreckt. Miss Wong, seine langjährige Lebensgefährtin, fehlte ihm, außerdem juckte es ihm im Anus, er konnte sich nicht kratzen, weil ein Venenkatheter mit Nährstofflösung im rechten Handrücken steckte. Morgens kam der Oberarzt mit Leibstandarte zur Visite und fragte ihn, wie es uns geht. Na, wie soll’s uns gehen, wenn’s im Arsch juckt und wir uns nicht kratzen können? Es war ein Elend.
    Am schmerzlichsten war Gisbert der Verlust der Tasche. Als er nach der Operation zu Bewusstsein kam, war sie sein erster Gedanke. Wie eine Mutter, die ihr verlorenes Kind sucht, rief er nach seiner Tasche. Man dachte, er halluziniere, man gab ihm Sedativa, im Dämmerschlaf suchte er weiter nach der Tasche, ohne Erfolg. Wer ihn gerettet und ins Krankenhaus gebracht hatte, erfuhr Fasch nicht. Nur dass man ihn nach einem schweren Verkehrsunfall in die Notaufnahme gebracht hatte.
    Die Jagd auf Henry Hayden war zu Ende. Zwei Jahre seines Lebens hatte er in die Suche investiert, und es waren die schönsten gewesen. Jetzt waren all die kostbaren Spuren, die Verästelungen und Rätsel, niemals wieder auffindbare Dokumente – verloren. Henry hatte ihn besiegt, mit einem läppischen Trick, einfach nur hinter einer Kurve auf ihn gewartet, und zack, peng, aus – was für eine Niederlage. Hätte Fasch die Erinnerung an den Unfall verloren, wie es bei einem Schädel-Hirn-Trauma normal ist, er hätte in Frieden gesunden können und sich über sein zweites Leben freuen. Aber er konnte nicht vergessen. Sein Gedächtnis projizierte ununterbrochen die gleiche Bildsequenz auf seine Netzhaut. Sobald er die Augen schloss, raste er in der Kurve direkt auf Henry zu. Immer wieder Henry. Halluzinationen entstehen aus dem Nichts, sie sind Einbildungen – aber das war keine Einbildung, sondern ein Dokumentarfilm in Endlosschleife, eine Folter. Immer wieder Henry. Wenn das nicht aufhört, beschloss Fasch, dann bringe ich mich um.
    Und irgendwann ging die Tür auf, und Henry Hayden kam herein. Nicht als Gespenst hinter einer Kurve, sondern in Person. Mit der professionellen Nonchalance eines Arztes, zog er sich einen Metallschemel heran und setzte sich neben ihn ans Bett. Er sah genauso aus wie auf dem Foto in Country Living. Nur dass da keine Frau an seiner Seite saß. Und kein Hund. Man möchte sagen, ein Understatement vom Feinsten.
    Dem Diabetiker im Bett nebenan entwich ein leises Zischen, sonst war es ganz still im Zimmer. »Wie geht es Ihnen?«, fragte Hayden in angenehm nüchternem Bariton. Wenn auch nicht originell, war die Frage doch angebracht, schließlich war man ja im Haus der Kranken. Die folgende Konversation führte Fasch mit einem zugekniffenen Auge, um seinen Feind nicht doppelt sehen zu müssen.
    Â»Wer sind Sie?«, fragte Fasch nach einigem Zögern.
    Â»Ich war zufällig dabei, als Sie verunglückt sind. Mein Name ist Henry Hayden.«
    Der Kerl hat Nerven, dachte Fasch. Zufällig hinter der Kurve hat er gelauert, zufällig dreißig Jahre von der Bildfläche verschwunden ist er, und jetzt kommt er zufällig vorbei. Wohl kaum.
    Â»Haydn … wie der Komponist?«
    Â»So ähnlich. Hayden mit e wie der Schriftsteller.«
    Â»So? Ich kenne Ihre Bücher. Leider kann ich grad schwer lesen, Sie sehen ja.« Fasch schaukelte mit dem Arm, der am Galgen hing. »Es geht einfach nicht.«
    Hayden ruckte mit dem Stuhl einen Millimeter näher ans Bett. »Ich besorge Ihnen gern ein paar Hörbücher, wenn Sie wollen.«
    Fasch überlegte, was der Grund sein konnte für Haydens Besuch. Er war sicher nicht gekommen, um ihm Hörbücher zu bringen. Vielleicht hatte Hayden erwartet, ein menschliches Gemüse vorzufinden, und war jetzt enttäuscht. Wusste er denn überhaupt, wer er war? Konnte er es wissen? Fasch versuchte, sich

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