Die Wahrheit und andere Lügen
Betty halb aus dem Stuhl. »Du denkst doch nicht, dass ich deine Frau umgebracht habe?«
»Hast du?«
Betty sah sich hilfesuchend nach Gerechtigkeit um, aber da war keine. Sie rang sichtlich mit dem Entschluss, aufzustehen und einfach fortzulaufen. Sie tat es nicht, sie blieb sitzen, ihr fehlte die Kraft. Henry empfand Mitgefühl mit ihr, aber leider musste er sie jetzt erwürgen wie das sterbende Reh auf dem Feld. Er fuhr fort.
»Offen gestanden habe ich das eine Weile geglaubt, ja. Ich schäme mich dafür, ich habe gedacht, du hast sie getötet.«
»Warum?«
»Aus Liebe zu mir. Menschenskind, was sollte ich denn glauben? Martha fährt zu dir, in ihrem Auto. Sie fährt dann in deinem Auto zu den Klippen und verschwindet. Und wo warst du?«
Betty schloss kurz die Augen. »Ich war zu Hause. Das weiÃt du doch.«
» Ich weià das, aber hast du ein Alibi?«
Ihr Lidschlag wurde langsam. »Das ist ein doofes Wort, Henry. Ich war einfach nur zu Hause. Ich hab auf deinen Anruf gewartet.«
»Ich hatte meine Zweifel«, gestand Henry in mildem Ton.
»Und jetzt hast du keine mehr?«
»Nein. Keine.«
»Was glaubst du jetzt?«
»Ich glaube, Martha ist ertrunken. Und die Polizei glaubt es auch. Du hast damit nicht das Mindeste zu tun. Das glaube ich.«
»Aber sie saà in meinem Auto.«
»Ja. Das war ein Fehler. Wir dürfen jetzt keine mehr machen.«
Betty presste sich gegen die Stuhllehne, die Arme vor der Brust verschränkt. »Welche Fehler können wir denn jetzt noch machen?«, fragte sie mit leiser Stimme. Henry schob den Teller beiseite, unternahm einen erfolglosen Versuch, ihre Hand zu greifen.
» Alle werden dich für meine Geliebte halten, wenn du jetzt ein Kind von mir bekommst.«
»Und? Ist es nicht so?«
»Natürlich ist es so. Aber der Zeitpunkt. Es wär doch fatal, wenn kurz nach dem Tod meiner Frau rauskommt, dass du von mir schwanger bist.«
»Was sollen wir tun?«, fragte Betty kaum noch hörbar, Henry las die Worte von ihren Lippen ab.
»Niemand muss das wissen. Niemand braucht zu wissen, dass das Kind von mir ist.«
Betty stand jetzt vom Tisch auf und hob die Hand. »Du machst mir Angst, Henry. Du hast mir immer Angst gemacht. Aber auf eines kannst du dich verlassen: Dein Kind kommt auf die Welt. Es kommt auf die Welt, und du bist sein Vater, ob du willst oder nicht. Entscheide, wie du dich dazu verhältst, ich mach dir keine Probleme. Ich verheimliche es auch, wenn du es wünscht.«
»Jetzt wirst du ungerecht, Betty. Ich will es, ich liebe unser Kind jetzt schon.«
Sie öffnete ihre Handtasche. Henry duckte sich, um nicht mit Pfefferspray eingenebelt zu werden. Doch sie schaute nur suchend hinein, kramte kurz und schloss die Tasche wieder.
»Was hast du vor?«, fragte er argwöhnisch.
»Ich geh kotzen.«
»Die Polizei weià nichts. Es gibt überhaupt kein Problem, solange wir nichts tun. Einfach nichts, verstehst du?«
»Henry â¦Â«
»Ja?«
»Deine Frau wusste alles. Nicht von dir, du hast ihr kein Wort von uns erzählt. Natürlich nicht. Du erzählst nie was.«
Betty wischte sich eine Strähne aus der Stirn, sie sah bezaubernd aus in ihrer Wut und Enttäuschung. Wie kommt es, dass ich sie immer dann am meisten begehre, wenn sie geht?, fragte sich Henry stumm.
»Noch was, Henry. Zum Abschied sagte mir deine Frau: Wir müssen Henry lieben, ohne ihn zu kennen. Ich weià nicht, wie das gehen soll, und ich glaube nicht, dass ich das kann.«
Betty drehte sich um und ging. Er blickte ihr nach, ohne Bedauern, aber mit Respekt, denn sie hatte schon Klasse. Es interessierte ihn nicht, wohin sie ging und ob sie zurückkehren würde. Er fragte sich vielmehr, ob es tatsächlich sein konnte, dass Martha die ganze Zeit von seiner Affäre mit Betty wusste, ohne ihr Verhalten zu ändern. Wer kann denn so was ertragen? Bis zum letzten Augenblick war die Freundschaft ihrer Liebe intakt geblieben, der gemeinsame Tagesablauf unverändert. â Und dann, plötzlich fährt sie zu ihrer Rivalin, um mit ihr Tee zu trinken? Ahnst du, wie es endet?, war Marthas letzte Nachricht an ihn, mit Bleistift unter das gerade vollendete Kapitel geschrieben. War das eine Warnung, eine Drohung, eine Prophezeiung? Henry fand keine Antwort. Es machte ihn müde, ständig über so was nachzudenken. Die Kugel war aus
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