Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Arango
Vom Netzwerk:
sich vorbeugte, um mit dem Teelöffel Creme fraîche auf den Rhabarberkuchen zu streichen, entluden bis dahin inaktive Drüsen Hormone in sein Blut. Kein Zweifel, alles schmeckt besser mit Creme fraîche, und Gefahr ist erotischer als Vernunft.
    Eine Viertelstunde später hätte er Rhabarberkuchen mit rostigen Nägeln gegessen, wenn es sie amüsiert hätte. Sie sprachen von der wohltuenden Isolation des Landlebens, er sprach von Inspiration, sie beschrieb ihre Schwäche für Landmaschinen. Gerade, als er ihr anvertrauen wollte, dass er einen John-Deere-Traktor gekauft hatte, um damit den alten Brunnen hinter der Kapelle auszuschachten , klingelte das Telefon. Das verdammte Telefon. Die perfideste Erfindung seit der Handgranate.
    Es war Betty. Sonja verstand seinen stummen Blick und verließ sofort den Raum. Ihre zierlichen Flipflops blieben in V-Form neben dem Sofa liegen – wenn das kein Zeichen ist, dachte Henry. Ihre spontane Reaktion deutete darauf hin, dass ihre kurze Bekanntschaft bereits eine Tendenz zum Konspirativen hatte. Eine emotional unbeteiligte Person wäre einfach sitzen geblieben. Jetzt galt es nur noch kleinstädtische Konventionen zu überwinden, Trauerarbeit zu leisten, störende Menschen zu entfernen und, last but not least, Marthas offizielle Todeserklärung abzuwarten. Henry zählte stumm bis fünf und nahm den Hörer ab.
    Bettys Stimme am Telefon war angespannt und tiefer als sonst. »Ich bin bei dir«, sagte sie. Wie vom heißen Eisen gesengt drehte Henry sich um die eigene Achse und schaute aus dem Panoramafenster.
    Â» Wo bist du?«
    Â»Ich bin ganz bei dir, Henry. Ich möchte, dass du das weißt. Ich liebe dich, ich will bei dir sein, unser Kind …«
    Ja, unser Kind unser Kind, trallala etcetera. Henry hörte nicht mehr zu. Wenn noch ein schwaches Restgefühl für Betty bestanden hatte, so war es nun von der Strahlkraft des Unbekannten atomisiert worden, er fühlte, dass er nichts mehr fühlte. Für Betty, wohlgemerkt. Dies wäre die Gelegenheit für ein offenes Wort gewesen, ein finanzieller Vergleich beispielsweise, das Versprechen, die Zukunft des gemeinsamen Kindes zu sichern und in aller Freundschaft und tiefer Verbundenheit auseinanderzugehen. Aber in keinem Moment ist der Mann feiger, sind seine Lügen erbärmlicher, als wenn man ihn in flagranti mit heruntergelassenen Hosen erwischt, nicht wahr, meine Herren?
    Â»Ich muss dich sehen«, sagte er.
    Â»Ich dachte schon, du willst mich nie wiedersehen.«
    Wie recht sie hatte. Er wollte sie nie wieder sehen. Es war höchste Zeit, ihr zu berichten, was sich wirklich an den Klippen abgespielt hatte.

XII
    D ie längsten Tage des Jahres kamen. Sie trafen sich gegen zwanzig Uhr im Hotel Vier Jahreszeiten. Nicht wie früher unter falschem Namen und mit Sonnenbrille und abgeschaltetem Telefon, sondern ganz offen im Foyer. Man erkannte Henry, man grüßte ihn, man kondolierte, es war wie auf einer Beerdigung. Henry blieb so bescheiden und gelassen wie immer und führte Betty in die Oyster Bar, wo man ihm den besten Tisch gab und schnell die Lilien wegräumte.
    Betty war unbehaglich zumute. Seine Korrektheit, der von ihm gewählte öffentliche Treffpunkt und vor allem die klebrige Behutsamkeit, mit der er sie jetzt berührte, verstärkten ihre Ahnungen, dass er ihr nun den Mord an seiner Frau beichten wollte. Was sagt man, wenn man so was hört? Nimmt man es als Liebesbeweis und ruft sodann die Polizei? Würde sie gegen den Vater ihres Kindes aussagen müssen? Oder sollte sie verständnisvoll schweigen und fortan mit einem Mörder leben? Ein Dilemma. Sie bestellte ein Wasser.
    Der Maître empfahl die Belon-Austern aus dem Schlick der Bretagne, Betty hatte keinen Appetit, Henry entschied sich wie gewöhnlich für ein Steak mit Fritten. Er schaute niemals in die Speisekarte. Wenn es kein Steak gab, dann eben Wiener Schnitzel. Betty analysierte die Menükarte, Henry konnte sehen, dass sie nichts wählen würde – gütiger Himmel, wie ihm das auf die Nerven ging, wenn Frauen eine Staatsaffäre um einen Teller Pasta machten. Betty klappte schließlich die Karte zu, schüttelte nur den Kopf, der Kellner verzog sich gekränkt.
    Â»Nun sag schon.«
    Henry räusperte sich wie vor einem Schulaufsatz. Er war noch nie gut in so was gewesen. »Ich denke mal, Martha hätte niemals gewollt, dass du für

Weitere Kostenlose Bücher