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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Arango
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immer neben ihrer halb vollen Kaffeetasse. Kurz überschlug sie, wie lange sie für so einen Schein arbeiten musste, und tauschte ihn gegen einen kleineren um.
    Würgende Geräusche drangen aus der dritten Kabine von links. Dann Spülung, wieder Würgen. Honor roch Maiglöckchen und sah die grässliche Tasche am unteren Türspalt stehen. Sie betrat die Kabine nebenan, hob den Deckel und zog sich den Rock hoch, um ein authentisches Geräusch zu produzieren. Zwischen einzelnen Würgeattacken vernahm sie jetzt ein leises Schluchzen, streng genommen ein Wimmern.
    Ein Geschenk war das, eine süße Belohnung, diesen privaten Moment ihrer Rivalin miterleben zu dürfen. Beinahe hätte sie vergessen, die Spülung zu drücken. Der Tod von Haydens Frau konnte dieses Luder schwerlich so mitgenommen haben, war sie doch zu echten Gefühlen nicht fähig. Es musste etwas zwischen den beiden vorgefallen sein, das dramatisch genug war, um sie zum Weinen und ihn zum Gehen zu bringen. Honor lauschte entzückt, wie ihre Rivalin hustete, Blut vielleicht, und dann die Kabine verließ, um sich am Waschbecken den Mund auszuspülen.
    Das obligate Weilchen verging, welches Frauen vor dem Spiegel mit Korrekturen verbringen. Honor riss Toilettenpapier ab, betätigte abermals die Spülung, ihre Tarnung war perfekt, schließlich vernahm sie Absatzklappern und hörte die Tür, die sich schloss. Sie ließ eine Minute verstreichen, dann verließ sie die Kabine, mental war sie auf den Fall vorbereitet, dass Betty die Toilette nicht verlassen hatte, sondern an der Tür auf sie lauerte. Zuzutrauen war es ihr. Dann hätte Honor Überraschung simuliert, vielleicht sogar ein paar Worte gewechselt, aber nicht zu viele. Doch sie war allein in der Damentoilette, ihre Rivalin war nicht mehr da.
    Die leere Packung Metoclopramid lag im Eimer neben dem Waschtisch. Unverkäufliches Muster war quer aufgedruckt, ein Stempel der gynäkologischen Praxis darunter. In der Packung fehlte der Beipackzettel. Honor durchwühlte den Plastikeimer, fand nichts außer falschen Wimpern, fleckigen Taschentüchern und verbrauchten Lippenstiften.
    In der Apotheke unweit vom Hotel ließ Honor Eisendraht sich aufklären, dass Frauen Metoclopramid im ersten Drittel der Schwangerschaft besser nicht einnehmen sollten. Aber viele Schwangere, verriet die Apothekerin mit sorgenvoller Miene, nähmen die Tabletten in ihrer Not trotzdem. Sie selbst habe die Übelkeit der ersten Schwangerschaftsmonate als die größte Prüfung empfunden, die sie als junge Mutter durchmachen musste.
    Honor Eisendraht nahm den Bus nach Hause. Sie stieg eine Station früher aus als gewöhnlich, um ein paar Schritte bis zu ihrer Wohnung zu laufen. In der Diele zog sie ihre Filzpantoffeln an, gab dem Sittich Wasser, legte sich auf ihrem Lesediwan auf den Bauch, nahm ein Kissen, drückte es sich vors Gesicht und schrie, so laut sie konnte.

XIII
    U nrasiert und ohne seine Schneidezähne sah Obradin aus wie ein Halloween-Kürbis mit Vollbart. Die meiste Zeit des Tages verbrachte er rauchend am offenen Schlafzimmerfenster über dem Fischgeschäft, zeigte jedem Passanten seine klaffende Zahnlücke und schaute auf das unsichtbare Meer hinter der Fassade der gegenüberliegenden Häuser. Mittlerweile beschäftigte sich der ganze Ort mit der mysteriösen Ursache seines Amoks. Seine Helga schwieg eisern, um die Gerüchteküche nicht noch anzuheizen. Manche tippten auf Schizophrenie, wieder andere vermuteten, da sei was Größeres in seinem Gehirn geplatzt. Es blieb Spekulation.
    Auch in den folgenden Tagen machte Obradin keine Anstalten, das Schlafzimmer zu verlassen und die Geschäfte wiederaufzunehmen. Seine Helga übernahm den Verkauf. Sie telefonierte dabei ununterbrochen, nutzte aber die Gelegenheit, ein Schloss an der Kellerklappe anbringen zu lassen und die albernen Fischbilder vom Schaufenster zu kratzen.
    Zu Mariä Himmelfahrt, es war ein prachtvoller Augusttag, kam Henry bestens gelaunt mit weißem Panamahut vorgefahren. Vor zwei Wochen war seine Frau ertrunken, die Trauer war ihm nicht anzumerken, aber jeder trauert auf seine Weise, wer kann schon sagen, wie Trauer aussieht? Er parkte auf dem Bürgersteig vor dem Geschäft, brachte Blumen und spanische Seife für Helga und einen Dachshaar-Rasierpinsel für Obradin.
    Helga schilderte Henry die ganze Geschichte, das meiste davon

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