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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Arango
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etwas aufzurichten, aber die eiserne Kopfkralle ließ das nicht zu. Das Pfeifen wurde lauter.
    Â»Hören Sie das auch?«, fragte Fasch, um über etwas anderes zu sprechen.
    Â»Was?«
    Â»Das Pfeifen. Es pfeift hier. Irgendwas pfeift. Es kommt durch die Wand.«
    Henry sah sich um, lauschte eine Weile, zuckte die Achseln.
    Â»Ich höre nix.«
    Fasch seufzte. »Sie hören also auch nichts. Keiner hört es, nur ich.«
    Â»Dann ist es eine Verschwörung.« Henry beugte sich zu ihm ans Bett. »Wenn ich etwas sehe oder höre, und alle anderen tun so, als wäre da nichts, dann weiß ich: Es ist eine Verschwörung.«
    Fasch musste lachen. Das tat ihm weh und nicht nur in der Brust, sondern vor allem in der Seele. Er wollte nicht lachen. Lachen ist Versöhnung, Lachen verbindet und vertreibt schlechte Gefühle. Nun hatte er bereits viel investiert in dieses schlechte Gefühl, hatte es gepflegt und großgezogen, warum sollte er sich jetzt davon trennen? »Sie haben gesehen, wie es passiert ist?«, fragte er, um rasch das Thema zu wechseln.
    Henry nickte. »Sie sind zu schnell in die Kurve, haben die Schutzmauer gerammt, dann hat sich der Wagen überschlagen.«
    Â»Ich erinnere mich an nichts.«
    Â»Das ist besser so. Es sah nicht besonders schön aus. Kaum zu glauben, wie man so was überleben kann.«
    Â»Wo war ich? Wie sah ich aus?«
    Henry dachte einen Augenblick nach. Fasch sah auf Henrys gepflegte Hände, die ruhig auf den Oberschenkeln lagen. Er trug eine IWC mit braunem Armband. Bestimmt teuer.
    Â»Ihr Wagen lag auf dem Dach. Überall waren Scherben … Sie waren auf der Rückbank eingeklemmt, ohne Bewusstsein, ich hab Sie aus dem Auto gezogen, Sie haben nichts gemerkt.«
    Â»Sie? Sie haben mich herausgezogen?«
    Henry lachte fröhlich. »Klar. Es war kein anderer da. Sie haben mich angesehen, Ihre Augen waren offen, aber gemerkt haben Sie nichts, oder?«
    Â»Ich weiß nichts mehr. Habe ich was gesagt?«
    Â»Sie haben nur gegurgelt.«
    Â»Und dann?«
    Â»Das werde ich oft gefragt. Also, da steckte so ein Stück Metall in Ihrer Brust. Ziemlich groß, etwa so.« Henry zeigte mit zwei Fingern, wie groß das Stück war.
    Fasch ertastete mit der rechten Hand die schmerzende Stelle, wo der Schlauch in seiner Brust verschwand. »Sie haben es herausgezogen?«
    Â»Ja.«
    Â»Dann haben Sie mich gerettet.«
    Â»Ach, i wo! Die Ärzte haben Sie gerettet. Ich war einfach nur da.«
    Lautlose Implosion des Gefühls. Fasch spürte, wie sein Hass zu etwas anderem wurde. Traurigkeit überkam ihn, aber er konnte die Transformation nicht verhindern, fühlte Sympathie und Dankbarkeit für Henry Hayden. Es gab keinen Grund mehr, ihn zu hassen.
    Henry legte den Kopf schräg. »Ich frage mich, warum Sie nicht gebremst haben.«
    Â»Hab ich nicht?«
    Â»Nein. Sie haben nicht gebremst. Sie sind einfach geradeaus gefahren.«
    Fasch schloss die Augen. Wieder raste er in die Kurve, vor ihm das gleißende Meer … er schoss auf Henry zu, Lichtreflexe auf der Sonnenbrille, kurz das Bild seiner Mutter, und dann – Hayden hatte recht, er hatte wirklich nicht gebremst.
    Als Fasch die Augen öffnete, stand Henry über ihn gebeugt, die Lippen zusammengepresst, den Blick in kalter Neugier auf ihn gerichtet. Da war es wieder, Grendel, das Ungeheuer aus dem Sumpf.
    Â»Ist Ihnen nicht gut?«, fragte Henry. »Soll ich den Arzt holen?«
    Â»Bitte nicht!«, erwiderte Fasch. »Ich habe schon genug Probleme.«
    Henry drückte auf die Klingel neben dem Bett.
    Â»Was machen Sie?«
    Â»Ich lasse Sie jetzt allein. Sie müssen schlafen.«
    Die Tür öffnete sich, und zwei Pfleger kamen in den Raum. Henry nickte ihnen zu. Sie machten sich an den Apparaten an seinem Bett zu schaffen. Fasch verspürte Panik.
    Â»Was passiert jetzt? Was machen Sie?!«
    Ein Pfleger beugte sich zu ihm herab. »Bleiben Sie ruhig, wir bringen Sie nur in ein anderes Zimmer, okay?«
    Â»Warum denn? Es ist schön hier. Ich will hier nicht weg!«
    Ein Stockwerk oberhalb schob man Fasch in ein Zimmer für Privatpatienten. Ruhig und sauber war es. Es hatte ein Fenster bis zum Boden mit weißem Vorhang davor, Blumen standen auf einem runden Glastisch, ein Flachbildschirm an der Wand, ein Kandinski-Druck über dem Waschbecken. Auf dem Beistelltisch mit Rollen lag ein nagelneuer

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