Die Wahrheit und andere Lügen
Kugelschreiber gekrakelt. Henry streifte sich die Einmal-Handschuhe über und klingelte â man kann ja nie wissen. Dann betrat er das dunkle Treppenhaus. Faschs Briefkasten quoll über von Post. Henry stieg in die zweite Etage.
Der Schnapper des Türschlosses lieà sich kinderleicht mit einem Taschenmesser zurückschieben, die Tür war nicht abgeschlossen. Das Ãffnen dauerte keine fünf Sekunden. Zufrieden stellte er fest, dass er die bewährten Handgriffe noch nicht vergessen hatte, aber Skifahren verlernt man ja auch nicht. Die Tür lieà sich nur einen Spalt weit aufschieben, dann stieà sie gegen ein Hindernis. Die Lücke war gerade breit genug, um sich hindurchzuzwängen. Starker Abflussgeruch drang Henry entgegen. Beim Eintritt in die Wohnung hatte er die absurde Empfindung, einen endoskopischen Rundgang durch eine fremde Persönlichkeit zu unternehmen, begonnen im müffelnden Rektum des Korridors.
Henry hatte nie mehr Bargeld und Schmuck entwendet, als er zum Leben brauchte. Weil er die Privatsphäre respektierte, lieà er persönliche Gegenstände stets unangetastet, sodass der Verlust verschmerzbar blieb. Von Kunst lieà er grundsätzlich die Finger, so was lässt sich schwer zu Geld machen. Im Idealfall wurde der Diebstahl gar nicht bemerkt, aber das kam selten vor. Einmal, vor vielen Jahren war er in eine Zahnarztpraxis eingebrochen und hatte Zahngold gestohlen. Als er Tage später von todgeweihten Sonderkommandos las, die in Auschwitz-Birkenau hinter den Gaskammern Gold aus den aufgerissenen Mündern der Toten brachen, brachte er das Gold sofort zurück und lieà zur Entschuldigung zwei Opernkarten zurück. Hocherfreut verfolgten der Arzt und seine Frau die »Traviata«-Inszenierung von den besten Plätzen, als sie nach Hause kamen, war der Brillantschmuck verschwunden. Aber das war lange her.
Bis zur Flurdecke türmte sich auf beiden Seiten bedrucktes Papier. Zeitungen, Magazine, Bücher, zentnerweise Fotokopien. Der Staub hatte Fäden gespannt, Wolken von zerfallender Zellulose rieselten auf ihn herab. Kunstvoll zusammengehalten und abgestützt durch Schnüre, Besenstiele und Latten aller Art, ähnelte der Flur einem Bergwerksstollen. Zwischen den Papierbergen verlief ein Trampelpfad von weniger als fünfzehn Zentimeter Breite, dessen Parcours Henry nur dank seiner frühen Teilnahme an Pfadfinderexkursionen folgen konnte.
Lichtscheue Silberfischchen huschten unter die Duschtasse, als Henry ins Badezimmer schaute. Der üble Geruch kam von hier, Henry schloss die Tür. Im Schlafzimmer türmten sich halb ausgeweidete Elektrogeräte, verfaultes Obst und dreckige Wäsche auf dem FuÃboden. Im Bett lag ein mandeläugiges Geschöpf mit gespreizten Schenkeln und weit aufgerissenem Mund. Ihr perfekt proportionierter Körper mit dem aus druckslosen Gesicht war ein wenig zur Seite gedreht, in der haarlosen Vagina steckte ein elektrischer Lockenstab. Aus reiner Neugier hob Henry die Puppe an, um festzustellen, dass sie das Normalgewicht einer lebenden Frau hatte, Henry schätzte Sie auf über fünfzig Kilo. Auf ihrer zierlichen FuÃsohle stand ihr Name gedruckt: »Miss Wong.« Die Puppe war mit Sicherheit nicht billig gewesen. Der Fleischton war gut getroffen, die Silikonhaut fühlte sich jedoch kalt an, was den Heizstab in ihrer Vinylvagina erklärte. Das Stillleben mit Lockenstab schien Henry wie ein geschmackloser Herrenwitz.
In einem Zimmer klingelte ein Telefon. Henry tastete sich zurück in den Papierdarm des Flurs und folgte dem Klingeln, bis er das überraschend aufgeräumte, geradezu spartanisch anmutende Arbeitszimmer von Gisbert Fasch erreichte. Auf einer groà dimensionierten, schwenkbaren Pinnwand sah er sich selbst. Seine Vita als vertikales Organigramm mit Bildern, Daten und Hunderten von bunten Kringeln. Henry war gerührt. Es war, als habe er soeben ein Fundbüro für verlorene Erinnerungen betreten. Da waren Polaroids von Gebäuden und Orten, Pressefotos und Bilder von ihm auf Lesungen und im oberen Drittel des Organigramms ein altes Postkartenfoto von einem Torbogen. Darauf stand in gusseiserner Schrift: Sankt Renata . In diesem Augenblick wurde Henry klar, wo er Fasch begegnet war.
Der beinah antike Anrufbeantworter sprang an, eine Kassette begann zu laufen. ⦠Hier spricht Gisbert Fasch. Ich kann Ihren Anruf nicht persönlich entgegennehmen, ich rufe
Weitere Kostenlose Bücher