Die Wahrheit und andere Lügen
Bucht gefahren, ohne Licht, und ich hab gesehen, wie du wieder zurückgekommen bist.«
»Und was hast du gedacht?«, fragte Henry ehrlich überrascht. »Nun sag schon, was hast du geglaubt?!«
»Ich hab gar nichts geglaubt. Du kannst machen, was du willst.« Obradin schüttelte den Stiernacken, ein Beben ging durch seinen massigen Körper. Das Hemd spannte über seinem Bauch, er neigte den Oberkörper nach links wie ein schwieriges Kind. »Ich weià nicht, was ich geglaubt habe. Es ist deine Sache, es ist allein deine Sache.«
»Es gibt eine Frau«, sagte Henry leise und setzte sich wieder neben seinen Freund, »eine andere Frau. Eine böse Frau. Sie heiÃt Betty und arbeitet im Verlag. Sie verfolgt mich seit Jahren, behauptet, sie bekommt ein Kind von mir. Sie erpresst mich damit. Sie will mein Geld, aber vor allem will sie mich.«
Und dann erzählte Henry seinem Freund, dem Fischhändler Obradin, was sich in der Nacht wirklich an den Klippen abgespielt hatte. Die »Drina« schaukelte sanft dabei, kleine Wellen schwappten gegen die algenbewachsene Bordwand, Fischlein zogen in kleinen Schwärmen vorbei. Obradin hörte mit geschlossenen Augen zu, er unterbrach Henry kein einziges Mal. Nur sein behaarter Zeigefinger fuhr mechanisch über die Hosennaht, als mache er Notizen.
»Sie hat mir erzählt, dass Martha sie besucht hat, um sie zur Rede zu stellen«, endete Henry seinen Bericht, »aber ihr Auto steht noch in der Scheune. Martha kam von dem Treffen nicht mehr nach Hause. Ich hab sie überall gesucht. Bettys Auto ist seitdem verschwunden. Sie hat es als gestohlen gemeldet. Diese Frau benutzt inzwischen meine Kreditkarten, sie erzählt überall rum, dass sie von mir schwanger ist. Vor Gericht wird sie sagen, dass ich es getan habe. Man wird mich wegen Mordes einsperren, und sie wird alles bekommen, das Haus, die Rechte an den Romanen, alles.«
Obradin öffnete die Augen und blinzelte in die Sonne. »Warum schickst du sie nicht einfach weg?«
Henry schaute fragend in Obradins Gesicht. »Wohin denn schicken?«
»Schick sie an einen Ort, von dem keiner zurückkommt.«
»Wo soll das sein?«
»Es ist ganz einfach«, erwiderte Obradin leise, »glaub mir.«
Henry schüttelte heftig den Kopf. »Ich bringe so was nicht fertig. Ich gebe zu, ich hab oft daran gedacht, aber ich bin zu weich dafür.«
»Nicht in deinen Romanen.«
»Das ist was anderes. Das ist Phantasie, reine Erfindung. In Wirklichkeit kann ich nicht mal einen Marder töten. Du warst im Krieg, Obradin, du hast deine Tochter verloren, du kannst hassen. Ich kann nicht hassen.«
»Du musst einen Fisch nicht hassen, um ihn zu töten. Es ist ganz einfach.«
»Ein Mensch ist kein Fisch, Obradin.« Henry schlug sich auf die Schenkel und stand auf. »Martha war die Liebe meines Lebens. Sie fehlt mir, das Haus ohne sie ist leer. Ich kann nicht mehr schreiben. Mein Freund, in ein, zwei Jahren wirst du vielleicht eine Postkarte bekommen. Von einem Unbekannten. Das werde ich sein. Bis dahin â¦Â«
Henry griff in seine Tasche und zog einen Schlüssel heraus.
»Der hier ist für ein SchlieÃfach. Wenn du mal in Not bist, wenn du nicht mehr weiterweiÃt, dann geh hin und schlieà es auf. In welcher Bank du suchen musst, findest du in Frank Ellis auf Seite 363. Leb wohl, mein Freund.«
XVII
D er Alte Hafen war das einzige Restaurant der Region mit einem Stern von Michelin. Die ausladende Terrasse aus restaurierten Schiffsplanken erhob sich auf geteerten Eichenstreben über das Meer, von hier aus konnte man gleichsam schwebend den Sonnenuntergang genieÃen. Die Eingeweihten genieÃen dazu die Spezialität des Hauses, den Big Sur Sundowner »Nepenthe«.
Henry parkte seinen Maserati neben einem offenen Bentley in Tudor Grey und lief über den akribisch geharkten weiÃen Kies des Parkplatzes vorbei an Marksteinen der Automobilgeschichte. Er hatte die Hemdsärmel hochgerollt und sein Jackett lässig über die Schulter gehängt. Er war frisch geduscht, hatte Appetit und roch sein eigenes Aftershave. Elastisch nahm er zwei Stufen auf einmal, um in die mit Sandelholz ausgelegte Lobby des Alten Hafen zu treten. Wer wie er an den chromglitzernden Statussymbolen vorbei bis zur Lobby gelangt, ohne dabei Neidgefühle oder Minderwert zu empfinden, hat es zweifellos geschafft und gehört
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