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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Arango
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dazu.
    Obwohl Henry eine dunkle Sonnenbrille trug, wurde er vom Oberkellner erkannt und an den seitlich gelegenen table pour deux auf der Terrasse geführt. Es war der Ecktisch direkt an der hölzernen Balustrade, von wo aus man das Eintauchen des Flammenplaneten in den Ozean sowie das Auftauchen neuer Gäste am besten beobachten konnte. Zwischen den Tischen war genug Raum, um die Beine auszustrecken und jederzeit bequem flüchten zu können. Henry warf einen kurzen Blick in die Runde. Das Konzept des casual dining erfordert nur einen legeren Dresscode, die meisten männlichen Gäste trugen Segelschuhe wie er, Sonnenbrillen wie er und teure Uhren wie er. Hier war man unter sich, jung gebliebene 50plus, wie man heute sagt. Die begehrten Balustradeplätze waren seit Monaten vergeben. Henry sah vor sich auf der weißen Tischdecke zwei langstielige Wassergläser, zwei Bestecke, zwei kleine Schälchen für die Horsd’œuvres und dezent gemusterte, vollkommen reine Servietten liegen. Er schaute auf seine Uhr, es war 18:46 Uhr. Er war eine Viertelstunde zu früh gekommen.
    Betty hatte den ganzen Tag über gelesen. Die Rollos vor den Fenstern ihres Büros waren geschlossen, nur einmal kam sie kurz in den Pausenraum, um sich frischen Pfefferminztee zu kochen. Als sie die letzte Seite umdrehte, verharrte sie verblüfft. »Das kann nicht sein«, sagte sie laut zu sich, »das kann nicht sein.« Das Ende des Romans fehlte. Es stand auch nicht das Wort »Ende« darunter, es war einfach nicht da.
    Der Roman Weiße Finsternis war unerträglich spannend. Mit feuchten Fingern hatte Betty die letzten Seiten umgeblättert, jetzt musste es passieren – und dann hörte es einfach auf. Betty starrte auf das große, leere Feld der letzten Seite, als sei dort ein Mikropunkt verborgen, in dem das Geheimnis der Auflösung enthalten war. Aber da war nur ein brauner, insignifikanter Klecks Fliegendreck.
    Es existiert ein unbestätigtes Gerücht, dass Freunde des Dramatikers Tschechow versucht haben sollen, in sein Arbeitszimmer einzubrechen, um die Enden seiner kostbaren Erzählungen zu retten. Tschechow war dafür bekannt, nur das notwendig Minimale seiner Texte übrig zu lassen und nach Vollendung seiner Erzählungen Anfänge und Enden abzuschneiden, weil er meinte, sie seien für die Geschichte nicht erforderlich. So mancher Leser seiner Erzählung Dame mit dem Hündchen stellt zu seinem Entsetzen fest, dass er bereits die letzte Seite erreicht hat – gerade, als die gepeinigte Liebe zweier einsamer Menschen sich über Konvention und das ewig russische Zögern erhebt, um im erlösenden Rausch der Liebe endlich … und damit ist es auch schon aus, Schluss, vorbei. Das so heftig Ersehnte ist nicht mehr Teil dieser Erzählung. Das ist furchtbar, aber man muss es akzeptieren.
    Betty unterdrückte den Impuls, Henry sofort anzurufen. Es war immerhin denkbar, dass er die fehlenden Seiten, es mochte ein Kapitel sein, einfach vergessen hatte, anzufügen. Der Roman ist fertig, hatte er zu ihr gesagt und dabei mysteriös gelächelt. Hatte er etwa das Ende unterschlagen, um sie ein wenig zu quälen? Wie unlogisch wäre das. Dieser Roman war anders als seine Vorgänger. Er war leidenschaftlicher und emphatischer in jedem Detail, aber ohne die fehlenden Seiten nichts als ein Torso. Kaum zu glauben, mit welcher empfindsamen Vehemenz dieser mit Gleichgültigkeit gepanzerte Kerl seine Figuren entwickelte, dachte Betty, als sie den Rest kalten Pfefferminztees trank. Sie legte das Manuskript neben sich.
    Henry hatte sie porträtiert. Betty erkannte sich selbst schon auf den ersten Seiten. Derselbe Mann, der sie für die Mörderin seiner Frau hielt und scheinbar nicht das geringste Gefühl für sein Kind entwickeln konnte, hatte ein genaues und liebenswertes Porträt von ihr gezeichnet. Als Lektor lernt man, Mensch und Werk zu trennen. Persönlichkeit, nicht Person, spiegeln sich im Werk des Künstlers wider. Man muss Henry lieben, ohne ihn zu kennen, waren Marthas Worte zum Abschied an der Tür gewesen. Martha hatte Henry wohl als den geliebt, der er war – als den Mann, den sie nicht kannte.
    * * *
    Gegen siebzehn Uhr, bevor Betty den Verlag verließ, schloss sie sich im Kopierraum ein. Sie legte Henrys 380 Seiten starkes Manuskript in die Papieraufnahme, steckte ihren USB-Stick ein und drückte auf »Scan«. Sofort

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