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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Arango
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begleichen.«
    Zurück zu den Anfängen der Menschheit. Ein Cro-Magnon-Mann kommt erschöpft, aber glücklich von der Jagd zurück. In seiner komfortablen Höhle, sagen wir, im heutigen Apulien, wirft er erlegtes Wild neben das Feuer und schaut sich nach seiner Frau um. Er ist müde, er hat Hunger, er will ihr von seinem Jagdglück erzählen. Im Dunkel der Höhle hört er sie jammern. Er nimmt einen brennenden Scheit, um nach ihr zu suchen. In einem Nebengang findet er sie liegend, neben sich das neugeborene Kind. Die zerbissene Nabelschnur hängt noch aus ihrem Schoß. Die Frau hält das Kind umklammert, bedeckt das zarte Gesichtchen mit den Händen. Er reißt es ihr aus dem Armen, das Kind beginnt zu schreien, er schnuppert daran und mustert es. Es ist ein kleiner Neandertaler. Er weiß sofort, dass er nicht der Vater dieses Bastards ist. Er tötet das Kind mit einem Wurf gegen die Felswand und kehrt zurück zum Feuer. Die Frau bleibt verängstigt zurück, nicht wissend, ob sie die kommende Nacht überleben wird.
    Seit dem Pleistozän hat sich zwar einiges getan, aber die Frage der Vaterschaft ist nach wie vor heikel, auch für die moderne Frau. Wer auch immer die Ultraschallbilder an Moreany geschickt hatte, es konnte kein Missverständnis sein und schon gar keine Adressverwechslung, sondern allein das Werk eines sehr schlechten Menschen. Henry scheidet aus, rekapitulierte Betty, während sie an Moreanys Schreibtisch stand, denn es ist nicht in seinem Interesse. Henry tat niemals etwas, das nicht in seinem Interesse ist. Aber kein Mensch außer ihm konnte von ihrer Schwangerschaft wissen, nicht einmal ihrer Mutter hatte sie davon berichtet. Ein Feind im Verborgenen hatte das getan, unsichtbar und doch ganz nah. Nach dieser kurzen Analyse setzte Betty sich zurück in Moreanys Eames Chair und sagte zur Erklärung das einzig Richtige: nichts.
    Während Moreany ebenfalls stumm am Schreibtisch saß und Betty ansah, weinte es in ihm. Der letzte Plan seines Lebens war gescheitert, die Spätsommerliebe in Venedig sollte ein törichter Greisentraum bleiben, das Ende konnte nur einsam sein. Es ist nichts mehr zu tun, dachte er, ich bin am Ende meines Weges angekommen. Er stand auf, ging ein wenig unsicher zu dem Tischchen aus schwarzem Ebenholz und goss Cognac in zwei Schwenker, reichte Betty einen.
    Â»Ich möchte dich um etwas bitten. Fahr zu Henry und besprich mit ihm den Roman. Ich kann mir vorstellen, dass er dich jetzt braucht. Die Zeit ist knapp, für die Buchmesse ist es schon fast zu spät. Er hat mir gesagt, es fehlen nur noch zwanzig Seiten, aber ich glaube nicht, dass er gerade schreiben kann. Wäre doch zu schade, wenn er den Roman nicht beenden kann, bevor ich in den Urlaub fahre, hm?«
    Ihr Mund war so trocken, dass ihre Lippen zusammenklebten, als sie von dem Cognac nippte. Der Alkohol brannte ihr in der Kehle. Er weiß es nicht , erfasste sie, er weiß nicht, dass es von Henry ist . Sie stand auf, stellte den Schwenker auf den Tisch und umarmte Moreany. Sie presste ihn fest an sich, niemals war sie ihm so nah und so dankbar gewesen. Was für ein nobler Mann, was für ein großartiger Mensch, dachte sie.
    Â»Ich ruf ihn gleich an, Claus, versprochen.«
    Moreany nickte ein wenig müde. »Danke. Wenn’s geht, sag ihm bitte nichts von mir.«
    Hätte Moreany in diesem Moment um ihre Hand angehalten, sie hätte ohne zu zögern Ja gesagt.
    Â»Natürlich nicht, Claus.«
    Honor nahm das Glas vom Ohr, mit dem sie an der Trennwand gelauscht hatte und setzte sich schnell an den Rechner. Mit einer Handbewegung streifte sie die Kopfhörer über und legte die Finger auf die Tastatur. Betty ging nicht wortlos durch das Vorzimmer wie sonst, sondern stellte sich vor Honors Schreibtisch und stützte beide Handflächen auf.
    Â»Honor«, sagte sie leise, »kann ich Sie um einen Gefallen bitten?«
    Honor nahm den Kopfhörer ab. Das war wirklich das erste Mal, dass diese Person sie respektvoll und vor allem direkt ansprach. Sie wollte es noch einmal hören.
    Â»Wie bitte?«
    Â»Darf ich Sie um einen Gefallen bitten?«
    Â»Jederzeit. Was kann ich für Sie tun?«
    Â»Wenn das nächste Mal so ein Versicherungsfritze bei Ihnen anruft, bitte geben Sie ihm keine vertraulichen Informationen über Herrn Hayden weiter.«
    Eisendraht zuckte mit dem Kopf, wie es ein Huhn tut, wenn es ein Korn

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