Die Wahrheit und andere Lügen
begann die Maschine die einzelnen Seiten einzuziehen, zu belichten und als PDF auf dem Stick abzuspeichern. AnschlieÃend spuckte sie das Papier wieder aus. Betty packte das Manuskript in eine Plastikfolie und schob es in ihre Handtasche. Den Stick legte sie in die kleine Murano-Glasschale auf ihrem Schreibtisch.
Sie nahm den Lift empor zu Moreanys Büro. Im Fahrstuhl spürte sie die merklich stärker werdenden Bewegungen des Kindes und legte die Hand auf ihren Bauch. Sofort lieÃen die Bewegungen nach. Die entsetzlichen Ãbelkeitsattacken waren verschwunden. Betty nahm keine Medikamente mehr, verzichtete seit Wochen ganz auf Alkohol und Zigaretten und trank Tee statt Kaffee. Entgegen ihren Erwartungen war der Verzicht auf die tägliche Dosis Gift ganz einfach, die Enthaltsamkeit machte sie noch schöner, Männer drehten sich offen nach ihr um, selbst die weiblichen Angestellten im Verlag taten es verstohlen.
Die meisten Mitarbeiter waren schon nach Hause gegangen, um übers Wochenende ans Meer zu fahren. Betty räumte im Vorbeigehen stehen gelassene Kaffeetassen vom Kaffeetresen weg, der von jedem Büro aus leicht zu erreichen war. Sie grüÃte den jungen, hübschen Kerl aus der Presseabteilung, der ihr immer Papierflieger nachwarf. Dann betrat sie Moreanys Vorzimmer, wo Honor Eisendraht an ihrem Geheimnis-Bisley stand, der Herzlungenmaschine des Verlags, wie Moreany den Schrank nannte, und Hefter der Buchhaltung einordnete. Ihr Monitor war bereits abgedeckt, neben der Tastatur auf ihrem Schreibtisch sah Betty einen Stapel Tarot-Karten liegen. Die Tür zu Moreanys Büros war geschlossen.
»Ist Moreany schon weg?«
Die Eisendraht lieà die Tarot-Karten verschwinden, nahm ihre Handtasche von der Rückenlehne des Stuhls. Betty bemerkte das dezente Parfüm, ihre gepflegte Frisur und den sicheren Sinn für Farbe, mit dem sie ihr Büro und ihre Kleidung aufeinander abstimmte.
»Er ist schon um fünfzehn Uhr zu einem Termin.«
Betty versuchte, in Eisendrahts Augen zu lesen, ob sie ihr eine Nachricht vorenthielt, aber die Sekretärin schaute neutral freundlich, etwa so, wie man es in anthropologischen Museen auf Totempfählen sieht. Nur ihr kurz abgleitender Blick auf Bettys Bauch verriet, was in ihr vorging.
»Gibt es sonst noch etwas?«, fragte Eisendraht und glättete dabei wohl unbewusst den Pullover über ihrem Bauchnabel.
»Ja. Ich habe Ihnen nie meine Wertschätzung gezeigt. Das war dumm von mir, es tut mir ehrlich leid. Ich respektiere Sie und bewundere Ihre Arbeit. Schönen Tag noch.«
Honor stand eine Weile reglos in ihrem Vorzimmer allein. Der Drachenbaum warf ein Blatt ab, sonst blieb alles beim alten. Und doch. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, die rührendsten Komplimente ausgerechnet aus dem Mund des Feindes zu hören, auf dessen kalte Abscheu bisher Verlass war. Honor Eisendraht kannte die Frauen viel zu gut, um nicht in vollster Klarheit zu sehen, dass Bettys Entschuldigung ernst gemeint war, aufrichtig und ohne Erwartung auf Gegenleistung. Sie nahm ihre Tasche und verlieà achselzuckend ihr Büro. So was passiert. Da kann man nichts machen.
Henry entschied sich für das Steak mit Fritten. Keine gewöhnlichen Kartoffelstäbchen, sondern avec des frites allumettes . Der Red Snapper Thai style am Nebentisch sah auch sehr verlockend aus, ebenso die Dame mit den Silikonbrüsten am selben Tisch, die sich furchtbar gern zu Henry gesetzt hätte, wenn die Umstände es erlaubt hätten, was nicht der Fall war. Aber Henry reichte auch ein Steak. Er schlürfte den Rest aus dem Sundowner, die Sonne stand noch hoch über dem Meer, seine Uhr zeigte 19 Uhr 07. Er blickte suchend Richtung Restaurantlobby, der Oberkellner sah seinen Blick und kam sofort an seinen Tisch. Natürlich sah er das zweite Gedeck, selbstverständlich verstand er, dass Henry mit dem Essen noch warten wollte, nicht ein minimaler Zweifel konnte bestehen, dass Henrys Begleitung weiblich war, deshalb schlug er einen Wermut vor, wie ihn der Gentleman in Erwartung der Dame trinken darf, ohne unschicklich gierig zu wirken. Einen Augenblick später vibrierte Henrys Telefon. Es war Betty.
»Du, ich fahre hier auf einer scheuÃlichen Sandpiste. Kann das stimmen?«
»Ja, das kann stimmen.«
Die Luft im Wagen flirrte, Betty schaute aus dem staubblinden Seitenfenster, lieà es ein Stück weiter herunter. Feiner Partikelnebel
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