Die Wahrheit und andere Lügen
Besprechungsraum lieà Awner Blum die Fotokopie eines neuen »Täterprofils« kursieren. »Wir suchen einen Mann«, begann er, »der seit langer Zeit ein Doppelleben führt. Er ist sportlich, etwa 30 bis 45 Jahre alt, könnte verheiratet sein, Kinder haben, eine unauffällige, bürgerliche Existenz führen. Er lebt in einem Umkreis von dreihundert Kilometern von hier. Vielleicht ist er Jäger, Förster, sogar Polizist oder Berufssoldat kommt als Beruf infrage, denn er tarnt sich perfekt und kennt sich mit Ortungstechniken gut aus. Er sucht den Kick, der ihm in seinem normalen Privatleben fehlt. Vielleicht raubt er in seiner Freizeit Banken aus oder bringt Menschen um, eventuell ist er auch auf der Flucht vor etwas.«
»Vor was denn?«, fragte Jenssen von einem hinteren Platz.
»Etwas in seiner Vergangenheit«, antwortete Blum. »Ein traumatisches Erlebnis, das ihn verfolgt, oder ein Verbrechen. Er überlässt nichts dem Zufall. Irgendwann lernt er sein Opfer kennen. Er muss seinem Opfer eine phantastische Geschichte über sich erzählt haben, so glaubwürdig, dass die Frau zu keinem Menschen über ihn sprach, nicht einmal zu ihren engsten Freunden und Verwandten. Wir müssen davon ausgehen, dass sie seine wirkliche Identität nicht kannte. Dann, eines Tages oder Nachts, wird sie von ihm schwanger. Das hat er nicht gewollt, die Sache wird ihm zu gefährlich. Auf der Fahrt zum Treffen mit Zeuge Hayden saà er mit ihr im Auto. Er hat sie getötet und verschwinden lassen.«
»Wie?«, fragte Jenssen von hinten.
»Per Boot oder per Schiff. Der Mord passierte direkt am Wasser.«
Jenssen stand von seinem hinteren Platz auf.
»Mit Verlaub, keine Frau ist so blöd. Das Opfer war Lektorin. Lektoren lesen beruflich Bücher, analysieren sie und suchen nach logischen Fehlern oder falschen Verknüpfungen darin. Das sind Fachleute für phantastische Geschichten. Denen entgeht nichts. Ich denke, man kann jedem was vormachen, aber nicht auf unbegrenzte Zeit. Wenn unser Mann sich tarnen wollte, und das hat er zweifellos getan, warum telefoniert er dann überhaupt mit ihr?«
Jenssens Ãberlegungen lösten ein Unbehagen im Raum aus, doch unbeirrt fuhr er fort. »Ich denke, der Kerl geht ein fach gern spazieren. Warum sollte ausgerechnet er Ultra schallbilder des Kindes an den Verlag schicken, wenn es niemand erfahren soll?«
Awner Blum schaute in die Runde. »Wäre es denkbar, dass das Mordopfer selbst die Bilder verschickt hat, um ihn loszuwerden?«
»Bestimmt nicht, wenn sie Angst vor ihm hatte.«
»Okay, Jenssen.« Blum war jetzt sichtlich verärgert, weil er als zertifiziertes Genie der Fallanalyse keine unproduktiven Zweifler gebrauchen konnte. »Verraten Sie uns, wer Ihrer Auffassung nach der Unbekannte ist?«
Jenssen murmelte etwas.
»Bitte? Sprechen Sie etwas lauter, bitte, wir können Sie nicht verstehen.«
»Ich sagte, vielleicht kennen wir ihn schon.«
»Vielleicht?«
Awner Blum schaute auf die Uhr an der Wand. Dieser Jenssen ging ihm auf die Nerven mit seinem »vielleicht«. Er war noch jung und relativ unerfahren für eine Mordkommission, noch dazu war er langsam und kein guter Teamplayer. Blum erwog seit geraumer Zeit Jenssens Versetzung zu einer anderen Dienststelle. Eine freundliche »Abwerbung« zu einem anderen Dezernat wäre eine vortreffliche Methode.
»Wir alle hier kennen Ihre Theorie, Jenssen, und fragen uns, warum Sie die so beharrlich verteidigen. Zeuge Hayden saà zum fraglichen Zeitpunkt auf der voll besetzten Terrasse eines Restaurants. Er hat kein Motiv, auÃer berühmt zu sein, er hat sich, so gut er konnte, um Mithilfe bei der Aufklärung bemüht â übrigens telefonierte er von seinem Telefon mit dem Opfer, als sie umkam. Was wäre denn Ihrer Meinung nach ein mögliches Motiv?«
»Sex«, antwortete Jenssen, nachdem er sich geräuschvoll geräuspert hatte, »das Mordopfer Betty Hansen war seine Geliebte. Er ist der Vater des Kindes. Er oder sie oder beide gemeinsam haben seine Ehefrau Martha umgebracht. Irgendwas ging dabei schief.«
* * *
In der klimatisierten Stille seines Privatzimmers begriff Gisbert Fasch, dass er ein Mann mit Problemen war. Nicht erst seit dem Unfall, sondern schon lange davor. Seine Mutter Amalie, die sporadisch zu Besuch kam, bestätigte das. Er sei immer ein Einzelkind gewesen,
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