Die Wahrheit und andere Lügen
erklärte sie ihrem Sohn, obwohl er zwei ältere Schwestern hatte. Deshalb habe er auch die Hälfte seiner Kindheit im Erziehungsheim verbracht. Nach diesem klärenden Gespräch brach Fasch die Beziehung zu seiner Mutter ab.
Das lästige Pfeifen, so wurde Fasch von einem Neurologen namens Rosenheimer erklärt, käme nicht durch die Wand, sondern sei ein Tinnitus, eine Störung seiner Hörwahrnehmung, bedingt durch seine Hirnquetschung. Diese Quetschung beschädigte nebenbei bemerkt auch die Sehrinde, die sich wundersamerweise im Gehirn ganz hinten befindet, das sei der Grund für die Doppelbilder. Beides würde für immer bleiben, ebenso wie eine lebenslange Steifbeinigkeit, ein um die Hälfte reduziertes Lungenvolumen und eine achtzigprozentige Wahrscheinlichkeit von epileptischen Anfällen in den folgenden sechzehn Monaten. Dieser Rosenheimer war kein mitfühlender Mensch. Gisbert hätte gern mit einem Psychiater gesprochen, doch die machen bekanntlich keine Krankenbesuche. Er war drei Wochen nach dem Unfall noch immer nicht in der Lage, selbständig das Bett zu verlassen. Seine Beine hingen nicht mehr an einem Galgen, sondern waren in Kunststoffmanschetten gebettet, aus der Drainage in seiner Brust floss nur noch sehr wenig klare Gewebsflüssigkeit ab.
Gisbert Fasch war nie glücklicher. Das Bewusstsein, ein geschenktes Leben mit all den Möglichkeiten des Neuanfangs genieÃen zu können, erfüllte ihn mit Freude und Dankbarkeit, lieà Schmerzen und Ohrgeräusche besser ertragen. Er dachte oft über den Mann nach, dem er das zu verdanken hatte. Neben seinem Bett auf dem Nachttisch lagen drei Staffeln der »Sopranos«, die ihm Henry mitgebracht hatte, und ein Schreiben der Staatsanwaltschaft. Dem war zu entnehmen, dass ein Verfahren wegen fahrlässiger Brandstiftung gegen ihn lief. Sein gesamter Hausrat war verbrannt. Als Brandursache galt ein elektrischer Lockenstab, der sich im Inneren einer Silikonpuppe Marke »Miss Wong« entzündet hatte. Es sah ganz so aus, als würde Fasch nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus obdachlos sein und anschlieÃend ins Gefängnis kommen. Fasch hatte den unterstrichenen Absatz BRANDURSACHE gut und gerne hundertmal gelesen â er hätte schwören können, dass er den Lockenstab in ihrem Unterleib abgeschaltet hatte, bevor er das Haus verlieÃ.
Es klopfte an die Tür, die Schwester vom Dienst schaute hinein. Ihre schlankes Gesicht mit der schwarzen Pagenfrisur und dem dicken Lidstrich unter den ausdrucksvollen Augen erinnerten Fasch an die verflossene Miss Wong und stimulierte Nacht für Nacht seine Lockenstab-Phantasien.
»Da ist Besuch für Sie.«
Jenssen kam mit einer ungewöhnlich groÃen Aktentasche in den Raum. Einen Moment lang blieb Gisbert das Herz stehen, doch dann erkannte er, dass die Tasche schwarz war und nicht braun wie seine. Der Polizist im Kordjackett stellte sich freundlich vor, zeigte Fasch seine Dienstmarke, legte die Tasche hinter sich auf den Tisch an der Wand. Dieser arme Kerl ist nicht krankenversichert und kann sich ein Privatzimmer leisten, dachte Jenssen und schob mit seiner kräftigen Hand den weiÃen Fenstervorhang beiseite, um einen Blick in den prächtigen Park zu werfen. Dann schaute er sich anerkennend in dem groÃen Krankenzimmer um.
»Schön haben Sie es hier.«
Diese höfliche Floskel konnte eine besonders schlechte Nachricht vorbereiten oder ein ganz und gar neues Thema beginnen. Jedenfalls war sie ungewöhnlich privat für einen wildfremden Polizisten.
»Darf ich bitte noch mal Ihren Ausweis sehen?«, fragte Fasch. Jenssen zeigte ihn erneut.
»Herr Fasch, Sie müssen nichts sagen, wenn Sie nicht wollen. Das ist keine Vernehmung, keine Anhörung, ich bin auch nicht wegen des Brandes in Ihrer Wohnung hier, sondern möchte Sie zu Ihrem Verkehrsunfall befragen.«
Fasch schielte an den breiten Schultern des Mannes vorbei zu der schwarzen Tasche auf dem Tisch. »Da sind nicht zufällig meine Aufzeichnungen drin?«
Jenssen lächelte listig. »Die Kollegen von der Unfallermitt lung haben im Wrack Ihres Wagens diese Dokumente ge funden.« Jenssen öffnete die Tasche und reichte Fasch einen halben Zentimeter dicken Umschlag. Fasch riss das Kuvert auf. Zu seiner Enttäuschung waren nur ein Bücherkatalog des Moreany-Verlags darin, ein kopiertes Namensregister aus dem Waisenhaus Sankt Renata
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