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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Arango
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nicht merkte, dass er auf privatem Grundstück lief, da kein Zaun oder Schild den Zugang versperrte. Als Henry bemerkte, dass der Spaziergänger parallel zum Haus auf und ab wanderte, holte er seinen Feldstecher aus dem Atelier. Doch dann war der Spaziergänger verschwunden. Zwei Tage danach stand er zwischen den Pappeln der Auffahrt, nur noch hundert Meter vom Haus entfernt. An einen Baum gelehnt, schaute er zu Henry herüber, als wolle er Kontakt aufnehmen. Obradin war es nicht, und wie der Polizist Jenssen sah er auch nicht aus, der war breitschultriger und blond. Dieser arme Kerl Fasch konnte es ebenfalls nicht sein, der lag noch im Krankenhaus. Henry winkte der Gestalt zu, doch sie stand weiter reglos an der Pappel und winkte nicht zurück. Wieder holte Henry seinen Feldstecher, wieder war die Gestalt verschwunden.
    Jetzt war sie im Garten.
    Henry öffnete die Tür zur Besenkammer, nahm das kurze Beil und verließ das Haus durch die Terrassentür an der Westseite, die zu dieser Tageszeit noch im Schatten lag, um sich von hinten an die Scheune zu schleichen. Poncho folgte ihm hechelnd. Geduckt pirschte Henry an der Hauswand entlang und suchte Deckung hinter den gestapelten, armlangen Eichenholzscheiten.
    Mückenschwärme tanzten über halb leeren Regenfässern, die an der Rückwand der Scheune vor sich hin faulten. Henry kletterte auf eine verrostete Dreschmaschine, die mit Vogelkot und einer seltsam anmutenden Perücke aus verrotteten Halmen bedeckt war. Mit Schwung zog er sich durch eine Öffnung in die Scheune. Poncho blieb schwanzwedelnd stehen, dann raste er, vom Jagdfieber gepackt, um die Scheune.
    Eine alte Lampe pendelte am Kabel, Schwalben hatten ihre Nester verlassen und kreisten aufgeregt unter den hölzernen Balken. Poncho kam nun durch das offene Tor gerannt, blieb hechelnd stehen und hob schnüffelnd die Schnauze. Henry wartete reglos mit dem Beil in der Faust. Nicht sonderlich interessiert lief Poncho nun hin und her, schließlich hob er ein Bein und markierte einen Pfosten. Henry ließ das Beil sinken.
    Â»Hallo?«
    Es kam keine Antwort, nur das irrlichternde Flattern der Schwalben. Henry streckte den Arm aus und hielt die pendelnde Lampe an. Der Flügelschlag der Vögel musste sie bewegt haben. Rechts von Henry stand Marthas weißer Saab. Die Tatzenspuren einer Katze zeichneten sich im feinen Staub auf der Motorhaube ab. Henry bemerkte, dass die Fahrertür des Wagens nicht ganz geschlossen war. Marthas halbes Gesicht und die Finger ihrer rechten Hand waren deutlich durch das Seitenfenster zu erkennen. Ihre hellen Finger bewegten sich. Henry ließ das Beil fallen und wich zwei Schritte zurück. Das halbe Gesicht öffnete den Mund und schloss ihn wieder, ohne dass ein Laut herausdrang. Henry spürte, wie tausende kleiner Muskeln jedes Haar auf seiner Haut aufrichteten.
    Eine ungewisse Weile stand er so. Situationen dieser Art werden bekanntlich als unmessbar kurz und zugleich unendlich lang erlebt, Henry hob scheu eine Hand zum Gruß. Das Gesicht hinter dem Seitenfenster blieb ausdrucklos, die Finger tasteten an der Scheibe auf und ab. Es schien Henry, als bedecke ein immaterielles, tiefschwarzes Tuch die fehlende Hälfte des Gesichts. Nachdem der Schrecken des ersten Anblicks sich gelegt hatte, schloss Henry die Augen und öffnete sie wieder. Das Gesicht verschwand kurz und materialisierte sich erneut samt der handlos tastenden Finger.
    Es war nicht Martha. Die Erscheinung war nicht vollständig, sie sah nicht einmal aus wie sie, sie war eine Täuschung und schien dennoch so real wie das Auto, in dem sie saß. Henry überwand sich und ging langsam auf das Gesicht im Saab zu, das nicht zurückwich. Mit einem Ruck zog er die Fahrertür auf. Der Geruch von feuchtem Kunststoff stieg ihm entgegen, der Innenraum des Wagens war leer. Poncho schob seinen haarigen Kopf an Henrys Bein vorbei und schnupperte. »Da ist nichts«, sagte Henry leise und schloss die Tür. Er schaute wieder durch die Scheibe, das Gesicht kehrte nicht mehr zurück. Henry nahm das Beil vom heubedeckten Boden auf und schloss das Scheunentor hinter sich. Nur zur Sicherheit suchte er die lockere Erde bei den Brombeerbüschen nach Fußspuren ab, fand aber nur Abdrücke von Ponchos großen Pranken.
    Nur mit einem Handtuch als Turban um die Haare gedreht, kam Sonja nackt aus dem Gästebad. Sie trat von hinten an Henry, der wieder am

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