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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Arango
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Küchentresen stand und Fleisch von den Knochen des Fasans trennte. Die schlanke Patek Philippe glänzte an ihrem Handgelenk, welche Henry einst als Abschiedsgeschenk für Betty kaufte, bevor er seine Frau ermordete. »Nicht erschrecken«, flüsterte sie und schlang die Arme um seine Hüften, presste ihre Brüste an seinen Rücken. Sie hatten einen wundervollen Vormittag verbracht. Gemeinsam mit Obradin waren sie auf der »Drina« zu einer blauen Kurzreise an der Küste entlanggefahren. Obradin hatte kaum geredet.
    Â»Weiß man schon, was Liebe ist«, fragte Sonja in schnurrendem Ton, »ist das erforscht?«
    Er antwortete nicht, sondern säbelte weiter mit dem Messer.
    Â»Ich frage mich, ob man messen kann, wie intensiv sie ist, wie lange sie dauert, und was danach kommt?« Sie löste sich von seinem Rücken, als sie die feuchte Hitze seiner Haut spürte. Das Hemd an seinem Rücken war komplett nass. »Meine Güte, du bist ganz durchgeschwitzt.« Sein Gesicht war schweißbedeckt und von ungesundem Grau. »Was ist passiert?« Sie wischte ihm mit der Hand über die Stirn, ihre Hand duftete nach Rosenöl. Er legte das Messer weg, drehte sich zu ihr um.
    Â»Meine Frau sitzt im Auto.«
    Unwillkürlich griff Sonja nach ihrem safrangelben Seidentuch, dass über einer Stuhllehne hing, stellte sich auf Zehenspitzen und blickte ängstlich über seine Schulter aus dem Küchenfenster.
    Â»Wo?«
    Â»In der Scheune. Sie sitzt in der Scheune in ihrem Auto.« Henry hielt sie am Oberarm fest. »Du kannst sie nicht sehen.« Er konnte den gut ausgebildeten Trizeps unter der Haut ihres Oberarms spüren. Sie ist viel zu jung für das alles, dachte er. »Es ist nur ein halbes Gesicht und Finger ohne Hand. Sie sieht nicht aus wie Martha, aber ich weiß, dass sie es ist. Sie nimmt Kontakt mit mir auf.«
    Â»Es ist eine Halluzination, Henry.«
    Â»Nenn es, wie du willst. Ich kann sie sehen, und sie sieht mich.«
    Sonja war einen ganzen Kopf kleiner als Henry. Sie schaute besorgt zu ihm auf, ein Wassertropfen perlte von einer Haarspitze unter dem Turban auf ihre Wange und lief wie eine Träne zum Kinn.
    Â»Du trauerst«, sagte sie leise.
    Wie konnte es anders sein? Vielleicht war Trauer nicht das richtige Wort, aber Martha fehlte ihm. Ihre Liebe fehlte ihm, ihre Anwesenheit fehlte ihm und war durch nichts zu ersetzen. Aber im Ernst, darf einer von Trauer reden, der den Wunsch nach Vergebung empfindet und sich lediglich nach Ruhe sehnt und Erlösung von Schuldgefühlen? Hat denn ein Mörder überhaupt ein Anrecht auf Trauer um das Opfer seiner Tat? Betty und das Kind waren ebenfalls an einem Ort, von dem keiner zurückkehrt, und Henry fühlte keine Traurigkeit. Musste er, wenn er zu wahrer Trauer imstande wäre, nicht auch um sie beide trauern?
    Â»Komm mit«, Henry nahm Sonja bei der Hand, »ich zeig dir was.«
    Henry zog die schwere Kommode beiseite, welche die Treppe ins Dachgeschoss versperrte. Dass sie tiefe Kratzspuren im Parkett hinterließ, schien ihn nicht zu kümmern. Sonja hatte die obere Etage noch nicht betreten. Sie wusste, dass Martha dort oben gewohnt hatte, und verspürte nicht den mindesten Wunsch, ihre Zimmer zu sehen, zumal es im Untergeschoss zwei Badezimmer mit Hamam gab und diverse Gästezimmer, das holzgetäfelte Kaminzimmer und das Atelier mit den Atlas-Panoramafenstern.
    Â»Muss das sein, Henry?«
    Er antwortete nicht.
    Â»Warte. Ich zieh mir schnell was über.«
    Henry wartete auf der Treppe, bis sie im Bademantel aus dem Gästebad kam. Er streckte die Hand aus, sie umfasste sie und folgte ihm die Stufen empor ins Dunkel der ersten Etage.
    Sonja bedeckte entsetzt den Mund mit beiden Händen, als sie das verwüstete Dachgeschoss sah. Die Decke unter dem Dach war vollständig aufgerissen, Streifen blauer Plastikfolie bewegten sich wie Seetang. Sämtliche Zwischenwände waren umgestoßen und aufgebrochen, Strom- und Wasserleitungen herausgerissen, überall quoll Glaswolle hervor. Regen war durch zersplitterte Ziegel und Spalte in den Dachlatten geflossen und hatte hässlich weiße Flecken auf Wänden und Dielen hinterlassen. Große Balkenteile lagen zersägt umher.
    Â»Die Statik hat ein bisschen gelitten. Hörst du?« Henry wippte auf und ab, die Dielen knarrten. »Vorher haben die nicht geknarrt«.
    Â»Warst du das? Hast du das alles

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