Die Wahrheit
seltsam vorgekommen, hätten sie mich einfach umbringen können. Da war’s ihnen wohl lieber, die Sache so zu handhaben. Aber nach all den Jahren sind sie dann etwas bequem geworden. Haben erlaubt, daß Samuel und dieser Typ vom Gericht mich besuchen.«
»Das hab’ ich mir auch so gedacht. Aber ich habe trotzdem den Brief von der Army zu dir reinschmuggeln können. Ich hab’ nicht gewußt, daß so eine Scheiße ablief, wollte aber trotzdem nicht, daß sie den Brief zu sehen kriegten.«
Beide schwiegen eine Zeitlang. Josh war von Natur aus schweigsam, und Rufus war es nicht gewöhnt, daß jemand mit ihm sprach. Die Stille wirkte befreiend und bedrückend zugleich auf ihn. Er hatte eine Menge zu sagen. Während Joshs halbstündiger Besuche im Gefängnis hatte hauptsächlich er geredet und sein Bruder zugehört, als habe er die Flut von Worten, von Gedanken in Rufus’ Kopf gespürt.
»Ich glaube, ich hab’ dich das nie gefragt, Josh. Warst du schon mal wieder zu Hause?«
Josh verlagerte das Gewicht auf dem Sitz. »Zu Hause? Was für ein Zuhause?«
Rufus fuhr leicht zusammen. »Wo wir geboren wurden, Josh!«
»Verdammt, warum sollte ich dahin zurück?«
»Mommas Grab ist da, oder?« sagte Rufus leise.
Josh dachte kurz darüber nach und nickte dann. »Ja, sicher, da ist ihr Grab. Ihr gehörte die Grabstelle, sie hatte die Sterbeversicherung. Sie mußten sie da begraben, obwohl sie mit allen Mitteln versucht haben, es zu verhindern, verdammich!«
»Ist es ein schönes Grab? Wer pflegt es?«
»Hör mal, Rufus, Momma ist tot, ja? Schon sehr lange. Und Momma weiß nicht, wie ihr Grab aussieht, verdammt noch mal. Und ich fahre nicht den weiten Weg nach Alabama runter, um ein paar Blätter vom verdammten Boden zu fegen, nicht nach allem, was da passiert ist. Nicht nach der ganzen Scheiße, die diese Stadt unserer Familie angetan hat. Hoffentlich müssen sie in der Hölle dafür schmoren, sie alle, jeder einzelne. Falls es einen Gott gibt - und ich habe da gewaltige Zweifel -, sollte er sie bis zum Jüngsten Tag braten lassen. Wenn du dir um die Toten Sorgen machst, ist es deine Sache. Ich achte lieber darauf, worauf es ankommt - dafür zu sorgen, daß wir beide nicht draufgehen.«
Rufus schaute seinen Bruder unverwandt an. Es gibt einen Gott, wollte er ihm sagen. Dieser Gott hatte Rufus Kraft gegeben, wenn er aufgeben und im Vergessen versinken wollte. Und man sollte die Toten und ihre letzte Ruhestätte achten. Wenn er das hier überlebte, würde er das Grab seiner Mutter besuchen. Sie würden wieder zusammensein. Für alle Ewigkeit.
»Ich spreche jeden Tag mit Gott.«
Josh stöhnte auf. »Das ist ja toll. Freut mich für ihn, daß er wenigstens ein bißchen Gesellschaft hat.«
Sie fuhren schweigend weiter, bis Josh schließlich sagte: »He, wie hieß dieser Typ, der dich besucht hat?«
»Samuel Rider?«
»Nein, nein, dieser junge Bursche.«
Rufus dachte einen Augenblick nach. »Michael sowieso«, sagte er zögernd.
»Vom Obersten Gerichtshof, hast du gesagt?«
Rufus nickte.
»Tja, sie haben ihn umgebracht. Michael Fiske. Jedenfalls glaub’ ich, daß sie ihn kaltgemacht haben. Hab’s im Fernsehen gesehen, bevor ich zu dir gekommen bin.«
Rufus senkte den Blick. »Verdammt. Hab’ mir gedacht, daß das passieren würde.«
»Es war auch blöd von dem Burschen, einfach zu dir in den Knast zu marschieren.«
»Er wollte mir nur helfen. Verdammt«, wiederholte Rufus. Und dann schwiegen sie, während der Kleinlaster weiterrollte.
KAPITEL 28
Fiske erklärte Sara den Weg, als sie in das Viertel am Rand von Richmond fuhren, in dem sein Vater wohnte, und schließlich auf die Schotterauffahrt abbogen. Nach einem weiteren heißen und feuchten Sommer in Richmond war das Gras stellenweise braun, doch vor dem Haus befanden sich sorgfältig gepflegte Blumenbeete, die vom ständigen Gießen prächtig gediehen.
»Sind Sie in diesem Haus aufgewachsen?«
»Das einzige Haus, das meinen Eltern je gehört hat.« Fiske schaute sich um und schüttelte den Kopf. »Ich sehe seinen Wagen nicht.«
»Vielleicht steht er in der Garage.«
»Da ist kein Platz mehr. Mein Vater hat vierzig Jahre lang als Automechaniker gearbeitet. Da hat sich eine Menge Schrott angesammelt.« Er schaute auf die Uhr. »Verdammt, wo steckt er bloß?« Er stieg aus, und Sara folgte ihm.
Fiske blickte sie über das Wagendach hinweg an. »Wenn Sie wollen, können Sie hier warten.«
»Ich begleite Sie«, sagte Sara rasch.
Fiske schloß die
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