Die Wand der Zeit
uns vom grasigen Höhenkamm oder von der dunklen Steilwand aus sieht, müssen wir wirklich als ein seltsames Gespann erscheinen. Lang, drahtig und sonnengebräunt der eine, dickbäuchig im Dunkeln dahinstolpernd der andere, den er schleppt, blass wie der Regen.
Es regnet jetzt stark. Der Mond hinter den Wolken gibt nur wenig Licht.
Ich richte mich auf eine nasse, kalte Nacht ein. Ohne Feuer, ohne etwas Warmes zu essen müssen wir einfach den Regen durchstehen und warten, bis es Tag wird.
Den Mann noch gepackt, steige ich den letzten Abschnitt des Steilufers hoch und stapfe hundert Meter landeinwärts zu einem Grasflecken. Ich lasse ihn runter. Er scheint jetzt zu schlafen oder bewusstlos zu sein. Meine Hände rutschen von seiner nassen Haut. Er fällt in eine Pfütze und landet mit dem Gesicht im Wasser, Schlamm spritzt ihm auf die Backen. Das eine Auge und ein Stück vom Mund sind unter Wasser. Er prustet, will sich hochstemmen, schafft es aber nicht. Ich sehe zu, wie er würgt. Mir geht noch die Puste vom Tragen. Er stößt einen gurgelnden Schrei aus. Kein Stummer also. Ich fasse ihn am Arm und drehe ihn um. »Ich baue ein Zelt auf«, sage ich. »Etwas zu essen habe ich auch. Dann schlafen wir.« Er sieht mich verständnislos an.
Ich zittere mich durch die Nacht, schlinge die Arme um mich und schlafe wenig. Der Mann sitzt mir an einen Felsen gelehnt gegenüber. Die Kälte scheint ihm nichts auszumachen, und er beobachtet mich ausdruckslos. Als ich aufwache, nachdem ich für ein paar Minuten eingenickt zu sein scheine, starrt er mich immer noch unverwandt mit seinen schwarzen Augen an. Es ist dunkel, aber ich bin ihm nah genug, um die Augen zu sehen. Riechen kann ich ihn auch. Ich bin es nicht gewohnt, einen anderen Menschen zu riechen. Den Geruch von nassem Gras, Schlamm, verwesenden Vögeln, Kiefern aus dem Wald, den manchmal dumpfigen Geruch von Torfrauch – das alles kenne ich, habe ich mir zu eigen gemacht: Es ist mein Geruch, der Geruch eines Inselmenschen. Seiner aber, fauliger Meeresgeruchauf nasser Haut, unangenehm süßlich, ist mir fremd.
Als es heller wird und sein Gesicht sich klarer abzeichnet, habe ich das Gefühl, ihn zu kennen. Ich durchforste mein Gedächtnis. Ich kann ihn nicht einordnen.
»Hallo«, versuche ich es noch einmal. Meine Stimme kommt jetzt wieder. »Mein Name ist Bran. Ich lebe hier auf der Insel. Wie heißen Sie?« Er sieht mich immer noch an, sagt aber nichts.
»Wer sind Sie? Wie sind Sie hierhergekommen?« Ich merke, wie ich anfange, mich über sein Schweigen zu ärgern.
»Was sind Sie? Ein Axumit?«, frage ich weiter. »Was waren Sie auf Axum?« Als er immer noch nicht antwortet, seufze ich und sehe durch die Zeltöffnung nach draußen.
»Sie haben viel durchgemacht. Das verstehe ich. Sie müssen nicht gleich mit mir reden.« Ich bin verärgert, aber ich habe auch eine Verpflichtung gegenüber dem Mann. Er ist auf meiner Insel. Ich bin für ihn verantwortlich. »Auf der anderen Seite der Insel ist eine Höhle. Da wohne ich. Da ist es warm. Da kann ich Feuer machen und kochen. Wir müssen jetzt los. Es dauert Stunden, bis wir dort sind.« Ich weiß, dass der Weg schwierig wird. Jetzt muss ich meine ganze Ausrüstung schleppen, und da er offensichtlich noch genauso schwach ist wie gestern, muss ich ihn wieder stützen.
Ich stehe auf und raffe die Plane zusammen. Da er sich nicht rührt, ziehe ich sie über ihn weg, als wäre er nicht da. Ich hänge mir die Tasche um, trete hinter ihn, greife ihm unter die Achseln und ziehe ihn hoch. Er ist wie Blei, und als er steht, wankt er unsicher. Ich halte ihn am Arm fest. »Können Sie laufen?« Daraufhin versucht er’s und macht ein paar Schritte, aber so wacklig, dass ich ihn wieder beim Arm nehme.
So machen wir uns dann langsam auf den Weg zur Höhle und legen alle paar Minuten eine Rast ein. Auch ich bin müde, nachdem ich zwei Tage kaum etwas gegessen habe. Am frühen Nachmittag kommen wir an. Brennmaterial kann ich wieder nicht besorgen. Einen kleinen Vorrat habe ich noch, aber der wird nicht lange halten.
In der Höhle sehe ich mir den Mann noch mal an. Durchforste mein Gedächtnis. Irgendwie komme ich nicht drauf.
Ich mache Feuer, lege ihn auf mein Bett, nehme mein Angelzeug, schließe die Tür hinter mir und ziehe los.
Beim Angeln wandern meine Gedanken. Fast entgeht mir der Ruck an der Schnur. Unwillkürlich denke ich mir Geschichten aus, die die Anwesenheit dieses Mannes erklären könnten. Ein Botschafter aus
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