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Die Wand

Titel: Die Wand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlen Haushofer
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hätte mir auch nichts genützt. Ich hatte erst vor zwei Wochen, auf Drängen meiner Töchter, unter den größten Schwierigkeiten die Fahrschule beendet und hätte um keinen Preis gewagt, in die Schlucht zu fahren. Ich fand in der Garage ein paar alte Säcke, mit ihnen beladen ging ich nach der Stallarbeit auf Heusuche.
    Im Stadel auf der Bachwiese fand ich wirklich noch etwas Heu. Ich stopfte es in die Säcke, die ich aneinanderband und hinter mir herschleifte. Aber ich sah bald, daß die Säcke auf der Schotterstraße den Transport nicht überstehen würden. So ließ ich zwei am Wegrand liegen und schleppte die anderen beiden auf den Schultern zum Jagdhaus. Ich räumte das Werkzeug aus der Garage und brachte es in der Kammer neben der Küche unter, dann holte ich die zurückgelassenen Säcke und leerte sie in der Garage aus.
    Am Nachmittag ging ich. noch zweimal um Heu und am folgenden Tag wiederum. Es war ja erst Anfang Mai, und um diese Zeit kann es im Gebirge noch empfindlich kalt werden. Solange es nur kühl und leicht regnerisch blieb, konnte ich die Kuh auf der Waldwiese grasen lassen. Sie schien über ihr neues Leben recht zufrieden zu sein und nahm mein ungeschicktes Melken mit Geduld hin. Manchmal wandte sie den großen Schädel, als betrachtete sie belustigt meine Bemühungen, aber sie blieb ruhig stehen und trat nie nach mir; sie war freundlich, oft sogar ein wenig übermütig.
    Ich dachte an einen Namen für meine Kuh und nannte sie Bella. Er paßte gar nicht in die Gegend, aber er war kurz und klangvoll. Die Kuh begriff bald, daß sie nun Bella hieß, und wandte den Kopf, wenn ich sie rief. Ich wüßte gerne, wie sie früher geheißen hat; Dirndl, Gretl oder vielleicht Graue. Eigentlich hätte sie gar keinen Namen gebraucht, sie war die einzige Kuh im Wald, vielleicht die einzige Kuh im Land.
    Auch Luchs hatte ja einen ganz unpassenden Namen, der von großer Unwissenheit der Bevölkerung zeugte. Aber von jeher hatten alle Jagdhunde im Tal Luchs geheißen. Die wirklichen Luchse waren schon so lange ausgerottet, daß kein Mensch im Tal eine Vorstellungvon ihnen besaß. Vielleicht hatte einer von Luchs' Vorfahren den letzten echten Luchs getötet und seinen Namen als Siegerpreis behalten.
    Das trübe Wetter ging in Dauerregen und später sogar in Schneegestöber über. Bella blieb im Stall und wurde mit Heu gefüttert, und ich fand plötzlich Zeit und Ruhe, um nachzudenken. Auf meinem, das heißt auf Hugos, Terminkalender steht am zehnten Mai vermerkt: Inventur.
    Jener zehnte Mai war ein richtiger Wintertag. Der Schnee, der anfangs gleich wieder geschmolzen war, blieb liegen, und es schneite immer noch.
    Es fing damit an, daß ich erwachte und mich völlig schutzlos und preisgegeben fühlte. Ich war körperlich nicht mehr müde und dem Ansturm meiner Gedanken ausgeliefert. Zehn Tage waren vergangen, und nichts hatte sich an meiner Lage verändert. Zehn Tage lang hatte ich mich mit Arbeit betäubt, aber die Wand war noch immer da, und keiner war gekommen, um mich zu holen. Es blieb mir nichts übrig, als mich endlich der Wirklichkeit zu stellen. Ich gab die Hoffnung damals noch nicht auf, noch lange nicht. Selbst als ich mir endlich sagen mußte, daß ich nicht länger auf Hilfe warten durfte, blieb diese irrsinnige Hoffnung in mir; eine Hoffnung gegen jede Vernunft und gegen meine eigene Überzeugung.
    Schon damals, am zehnten Mai, schien es mir sicher, daß die Katastrophe von riesigem Ausmaß war. Alles sprach dafür, das Ausbleiben der Retter, das Schweigen der Menschenstimmen im Radio und das wenige, das ich selber durch die Wand gesehen hatte.
    Noch viel später, als fast jede Hoffnung in mir erloschen war, konnte ich noch immer nicht glauben, daß auch meine Kinder tot wären, nicht auf diese Weise tot wie der Alte am Brunnen und die Frau auf der Hausbank.
    Wenn ich heute an meine Kinder denke, sehe ich sie immer als Fünfjährige, und es ist mir, als wären sie schon damals aus meinem Leben gegangen. Wahrscheinlich fangen alle Kinder in diesem Alter an, aus dem Leben ihrer Eltern zu gehen; sie verwandeln sich ganz langsam in fremde Kostgänger. All dies vollzieht sich aber so unmerklich, daß man es fast nicht spürt. Es gab zwar Momente, in denen mir diese ungeheuerliche Möglichkeit dämmerte, aber wie jede andere Mutter verdrängte ich diesen Eindruck sehr rasch. Ich mußte ja leben, und welche Mutter könnte leben, wenn sie diesen Vorgang zur Kenntnis nähme?
    Als ich am zehnten Mai erwachte,

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