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Die Wand

Titel: Die Wand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlen Haushofer
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und schrie und glaubte, ohnmächtig zu werden.
    Aber ich wurde nicht ohnmächtig; es ist mir nicht gegeben, ich war noch nie im Leben ohnmächtig. Schließlich,als ich immer noch bei Besinnung war, stand ich zitternd auf, wusch mir Blut, Eiter und Tränen vom Gesicht und legte mich aufs Bett. Die folgenden Stunden waren reinstes Glück. Ich schlief dann bei offener Hüttentür ein, und ich schlief, bis Luchs mich am Abend weckte. Dann stand ich, immer noch recht wackelig, auf, trieb Bella in den Stall, fütterte und molk sie, alles sehr langsam und vorsichtig, weil ich bei raschen Bewegungen taumelte. Später, nachdem ich ein wenig Milch getrunken und Luchs gefüttert hatte, schlief ich am Tisch sitzend sofort wieder ein. Seither füllt sich gelegentlich die Fistel, bricht auf und heilt wieder zu. Aber ich habe keine Schmerzen mehr. Ich weiß nicht, wie lange so etwas gut gehen kann. Es wäre für mich lebenswichtig, falsche Zähne zu haben, aber ich habe noch immer sechsundzwanzig eigene Zähne im Mund, unter anderen auch solche, die längst herausgehört hätten, aber aus Eitelkeit sogar noch überkront wurden. Manchmal erwache ich um drei Uhr morgens, und der Gedanke an diese sechsundzwanzig Zähne hüllt mich in kalte Hoffnungslosigkeit. Wie Zeitbomben sitzen sie in meinem Kiefer fest, und ich glaube nicht, daß ich jemals imstande sein werde, mir selbst einen Zahn zu ziehen. Wenn Schmerzen kommen, werde ich sie ertragen müssen. Es wäre zum Lachen, wenn ich schließlich nach jahrelangen unendlichen Mühen im Wald an Zahneiterung sterben sollte.
    Nach dieser Zahngeschichte erholte ich mich nur langsam. Ich glaube, es lag an den vielen Pulvern, die ich genommen hatte. Bei meinem nächsten Rehbock verbrauchte ich zuviel Munition, weil meine Hände zitterten. Ich aß fast nichts, trank aber viel Milch, und ich glaube, die Milch heilte mich schließlich von meiner Vergiftung.
    Am zehnten Juni ging ich auf den Erdapfelacker. Das grüne Kraut stand schon recht hoch, und fast alle Knollenwaren aufgegangen. Aber auch das Unkraut war in die Höhe geschossen; und da es am Vortag geregnet hatte, fing ich gleich an zu jäten. Es wurde mir klar, daß ich meinen Acker auch schützen mußte. Ich glaube zwar nicht, daß das Wild Erdapfelkraut frißt, wenn es ringsum die feinsten Kräuter finden kann, aber es könnte doch sein, daß irgendein Tier sich an die kostbaren Knollen heranmacht. Also verbrachte ich die nächsten Tage damit, den Acker mit kräftigen Ästen abzustecken, die ich mit langen braunen Lianen miteinander verflocht. Es war keine besonders anstrengende Arbeit, aber sie verlangte eine gewisse Geschicklichkeit, die ich mir erst aneignen mußte.
    Nachdem diese Arbeit getan war, sah mein kleiner Acker aus wie eine Festung mitten im Wald. Von allen Seiten war er geschützt, nur gegen die Mäuse konnte ich wenig tun. Freilich hätte ich ihre Löcher mit Petroleum füllen können, aber diese Verschwendung konnte ich mir nicht leisten; außerdem, wer weiß, vielleicht hätten die Erdäpfel dann nach Petroleum geschmeckt. Ich habe natürlich keine Ahnung, und besonders viele Experimente kann ich mir aus naheliegenden Gründen nicht gestatten.
    Von den Bohnen neben dem Stall war nur die Hälfte aufgegangen. Vielleicht waren sie doch schon zu alt gewesen. Aber auch hier konnte ich, wenn das Wetter günstig blieb, auf eine kleine Ernte hoffen. Eigentlich war es ein reiner Glücksfall, daß ich die Bohnen eingelegt hatte, eher aus einem spielerischen Einfall heraus als aus Überlegung. Später wurde mir erst klar, wie wichtig gerade die Bohnen für mich waren, sie mußten mir das Brot ersetzen. Heute habe ich schon einen ganz großen Bohnengarten.
    Ich zäunte auch den Bohnengarten ab, denn ich konnte mir vorstellen, daß Bella in einem unbewachten Augenblickdas Bohnenkraut nicht verschmäht hätte. Wenn mir meine Arbeit ein wenig Zeit übrigließ, an Regentagen etwa, verfiel ich sofort in einen Zustand der Sorge und Ängstlichkeit. Bella gab zwar immer gleich viel Milch und war entschieden rundlicher geworden. Aber ich wußte noch immer nicht, ob sie ein Kalb erwartete.
    Und wenn sie wirklich ein Kalb bekam? Ich saß stundenlang am Tisch, den Kopf in die Hände gestützt und dachte über Bella nach. Ich verstand so wenig von Kühen. Wenn ich nicht imstande war, dem Kalb ans Licht zu helfen, wenn Bella die Geburt nicht überlebte, wenn gar sie und das Kalb starben, wenn Bella auf der Wiese giftiges Gras erwischte, ein Bein

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