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Die Wand

Titel: Die Wand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlen Haushofer
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einer Blechschüssel und einem Stück verschimmelten und von Mäusen angenagten Specks. Ich setzte mich an den rohen Tisch und packte meine Vorräte aus. Luchs war zum Bach gegangen, um zu trinken. Ich konnte ihn durch die offene Tür sehen, und das beruhigte mich ein wenig. Ich trank Tee aus der Flasche, aß eine Art Reiskuchen und gab später auch Luchs davon. Die Stille und die Sonne, die auf dem Dach brütete, verlockten mich zum Schlafen. Aber ich fürchtete die Flöhe in den streugefüllten Bettstellen, außerdem hätte mich ein kurzer Schlaf nur noch müder gemacht. Es war besser, dem Verlangen nicht nachzugeben. Also packte ich den Rucksack und verließ die Hütte.
    Die nächtliche und morgendliche Hochstimmung war verflogen, und die Füße taten mir weh in den schweren Bergschuhen. Die Sonne brannte auf meinen Kopf, und selbst Luchs schien müde und versuchte nicht, mich aufzumuntern.Der Aufstieg war nicht steil, aber sehr lang und eintönig. Vielleicht schien er auch nur mir eintönig in meiner niedergedrückten Stimmung. Ich stolperte dahin, ohne auf meine Umgebung zu achten, und gab mich trüben Gedanken hin.
    Jetzt hatte ich also die Täler, die ich erreichen konnte, ohne tagelang wegzubleiben, erforscht. Ich konnte noch zur Alm aufsteigen und von dort aus das Land überblicken, aber weiter hinein in den langgezogenen Gebirgsstock konnte ich mich nicht wagen. Natürlich würde man mich finden, wenn es dort drüben keine Wand gab, ja, ich mußte mir sagen, daß man mich längst hätte finden müssen. Ich konnte ruhig daheim sitzen bleiben und warten. Aber immer wieder fühlte ich mich dazu getrieben, selber etwas gegen die Ungewißheit zu unternehmen. Und ich war gezwungen, nichts zu tun und zu warten, ein Zustand, den ich schon immer besonders verabscheut hatte. Viel zu oft und viel zu lange hatte ich schon gewartet auf Menschen oder Ereignisse, die niemals eingetroffen waren oder so spät, daß sie mir nichts mehr bedeutet hatten.
    Während des langen Rückwegs dachte ich über mein früheres Leben nach und fand es in jeder Hinsicht ungenügend. Ich hatte wenig erreicht von allem, was ich gewollt hatte, und alles, was ich erreicht hatte, hatte ich nicht mehr gewollt. Wahrscheinlich ist es meinen Mitmenschen ebenso ergangen. Gerade darüber haben wir, als wir noch zueinander sprachen, nie gesprochen. Ich glaube nicht, daß ich noch einmal Gelegenheit haben werde, mich mit anderen Menschen darüber zu unterhalten. So bin ich nur auf Vermutungen angewiesen. Damals auf dem Rückweg in mein Tal war ich mir noch nicht klar darüber, daß mein früheres Leben ein jähes Ende gefunden hatte, das heißt, ich wußte es wohl schon, abernur mit dem Kopf, und also glaubte ich nicht daran. Erst wenn das Wissen um eine Sache sich langsam im ganzen Körper ausbreitet, weiß man wirklich. Ich weiß ja auch, daß ich, wie jede Kreatur, einmal sterben muß, aber meine Hände, meine Füße und meine Eingeweide wissen es noch nicht, und deshalb erscheint mir der Tod so unwirklich. Seit jenem Junitag ist Zeit vergangen und allmählich fange ich an zu begreifen, daß ich nie wieder zurück kann.
    Gegen ein Uhr mittags erreichte ich den Pfad, der durch die Latschen führt, und ruhte mich auf einem Stein aus. Der Wald lag dunstend in der Mittagssonne, und warme Duftwolken stiegen aus den Latschen zu mir auf. Jetzt konnte ich erst sehen, daß die Alpenrosen blühten. Als rotes Band zogen sie sich über die Halden dahin. Es war jetzt viel stiller als in der Mondnacht, als läge der Wald schlafgelähmt unter der gelben Sonne. Ein Raubvogel zog hoch im Blauen seine Kreise, Luchs schlief mit zuckenden Ohren, und die große Stille senkte sich wie eine Glocke über mich. Ich wünschte, immer hier sitzen zu dürfen, in der Wärme, im Licht, den Hund zu Füßen und den kreisenden Vogel zu Häupten. Längst hatte ich aufgehört zu denken, so, als hätten meine Sorgen und Erinnerungen nichts mehr mit mir gemein. Als ich weitergehen mußte, tat ich es mit tiefem Bedauern, und ganz langsam verwandelte ich mich unterwegs wieder in das einzige Geschöpf, das nicht hierhergehörte, in einen Menschen, der verworrene Gedanken hegte, die Zweige mit seinen plumpen Schuhen knickte und das blutige Geschäft der Jagd betrieb.
    Später, als ich die obere Jagdhütte erreichte, war ich wieder ganz mein altes Ich, begierig darauf, in der Hütte etwas Brauchbares zu finden. Ein schwaches Bedauern blieb noch stundenlang in mir zurück.
    Ich erinnere mich

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