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Die Wand

Titel: Die Wand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlen Haushofer
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zuwenig beachtet. Er war ein vergrämt aussehender, bartloser Mann in mittleren Jahren, hager und, für einen Jäger, unnatürlich weißhäutig. Das auffallendste an ihm waren seine sehr hellen, grünlichblauen Augen, die besonders scharf waren und auf die sich dieser bescheidene Mann sehr viel einzubilden schien. Er benützte das Fernglas nie anders als mit verächtlichem Lächeln. Das ist alles, was ich über den Jäger weiß; außer daß er sehr pflichtbewußt war und gern getrocknete Zwetschen kaute, ja, und daß er eine gute Hand für Hunde hatte. In der ersten Zeit dachte ich manchmal an ihn. Es wäre doch möglich gewesen, daß Hugo ihn schon bei seiner Ankunft mitgenommen hätte. Wahrscheinlich hätte ich es dann leichter gehabt in den letzten Jahren. Jetzt allerdings bin ich meiner Sache nicht mehr ganz sicher. Wer weiß, was die Gefangenschaft aus diesem unauffälligen Mann gemacht hätte. Auf jeden Fall war er körperlich stärker als ich, und ichwäre von ihm abhängig gewesen. Vielleicht würde er heute faul in der Hütte umherliegen und mich arbeiten schicken. Die Möglichkeit, Arbeit von sich abzuwälzen, muß für jeden Mann eine große Versuchung sein. Und warum sollte ein Mann, der keine Kritik zu befürchten hat, überhaupt noch arbeiten. Nein, es ist schon besser, wenn ich allein bin. Es wäre auch nicht gut für mich, mit einem schwächeren Partner zusammen zu sein, ich würde einen Schatten aus ihm machen und ihn zu Tode versorgen. So bin ich eben, und daran hat auch der Wald nichts geändert. Vielleicht können mich überhaupt nur Tiere ertragen. Wären auch Hugo und Luise im Wald zurückgeblieben, hatten sich sicher im Lauf der Zeit endlose Reibereien ergeben. Ich kann nichts sehen, was unser Zusammensein glücklich hätte gestalten können.
    Es hat keinen Sinn, darüber nachzudenken. Luise, Hugo und den Jäger gibt es nicht mehr, und im Grund wünsche ich sie nicht zurück. Ich bin nicht mehr die, die ich noch vor zwei Jahren war. Wenn ich mir heute einen Menschen wünschte, so müßte es eine alte Frau sein, eine gescheite, witzige, mit der ich manchmal lachen könnte. Denn das Lachen fehlt mir noch immer sehr. Aber sie würde wohl vor mir sterben, und ich bliebe wieder allein zurück. Es wäre schlimmer, als sie nie gekannt zu haben. Das Lachen wäre damit zu teuer erkauft. Ich müßte mich dann auch noch an diese Frau erinnern und das wäre zu viel. Ich bin schon jetzt nur noch eine dünne Haut über einem Berg von Erinnerungen. Ich mag nicht mehr. Was soll denn mit mir geschehen, wenn diese Haut reißt?
    Ich werde nie meinen Bericht zu Ende bringen, wenn ich mich hinreißen lasse, jeden Gedanken, der mir durch den Kopf geht, niederzuschreiben. Aber jetzt habe ich die Lust verloren, weiter über meinen Ausflug zu berichten. Ich weiß auch nicht mehr, wie der Abstieg zur Hüttewar. Jedenfalls kam ich mit vollgepacktem Rucksack zurück, versorgte Bella und ging gleich zu Bett.
    Am folgenden Tag, es steht auf meinem Kalender vermerkt, fingen die Zahnschmerzen an. Der Zahn tat so entsetzlich weh, daß ich mich nicht wundere über die Aufzeichnung. Nie zuvor und nie nachher hat mir ein Zahn so weh getan. Ich hatte an diesen Zahn nie gedacht, wahrscheinlich weil ich genau wußte, daß er nicht geheuer war. Er war aufgebohrt und trug eine Einlage, und der Zahnarzt hatte mir aufgetragen, ja bestimmt in drei Tagen zu kommen. Die drei Tage waren zu drei Monaten geworden. Ich verbrauchte eine Unmenge von Hugos schmerzstillenden Tabletten und fühlte mich am dritten Tag so benommen, daß ich nur mit größter Mühe die notwendigen Arbeiten verrichten konnte. Manchmal glaubte ich, ich müßte verrückt werden; es war, als hätte der Zahn lange dünne Wurzeln gebildet, die sich jetzt durch mein Hirn bohrten. Am vierten Tag hörten die Pulver überhaupt zu wirken auf, und ich saß am Tisch, den Kopf in die Arme gestützt, und lauschte auf das wütende Toben in meinem Hirn. Luchs lag neben mir auf der Bank und war betrübt, aber ich war nicht fähig, ihm ein gutes Wort zu sagen. Ich saß auch die ganze Nacht hindurch am Tisch, im Bett wurden die Schmerzen nur noch ärger. Am fünften Tag bildete sich ein Geschwür, und in einem Anfall von Verzweiflung und Wut schnitt ich mir den Kiefer mit Hugos Rasiermesser auf. Der Schmerz des Schneidens war fast angenehm, weil er für einen Augenblick den anderen Schmerz auslöschte. Es floß eine Menge Eiter ab, und ich war schon so heruntergekommen, daß ich stöhnte

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