Die Wand
ich nicht bekämpfen konnte, wenn ich mich nicht selbst zerstören wollte. Um unsere Freiheit ist es sehr traurig bestellt. Wahrscheinlich hat es sie nie anderswo als auf dem Papier gegeben. Von äußerer Freiheit konnte wohl nie die Rede sein, aber ich habe auch nie einen Menschen gekannt, der innerlich frei gewesen wäre. Und ich habe diese Tatsache nie als beschämend empfunden. Ich kann nicht sehen, was daran unehrenhaft sein sollte, wie jedes Tier die auferlegte Last zu tragen und letzten Endes wie jedes Tier zu sterben. Ich weiß nicht einmal, was Ehre ist. Geboren werden und sterben ist nicht ehrenhaft, es geschieht jeder Kreatur und bedeutet darüber hinaus gar nichts. Auch die Erfinder der Wand haben nicht nach einem freien Willensentschluß gehandelt, sondern sind einfach ihrer triebhaften Wißbegier gefolgt. Man hätte sie nur, im Interesse der großen Ordnung, davon abhalten müssen, ihre Erfindung in die Tat umzusetzen.
Aber ich will mich lieber dem zweiten Juli zuwenden, dem Tag, an dem mir klar wurde, daß mein Leben vonder Menge der verbliebenen Zündhölzer abhing. Dieser Gedanke überfiel mich, wie alle unangenehmen Gedanken, um vier Uhr morgens.
Bis dahin hatte ich in dieser Hinsicht sehr leichtsinnig gelebt, ohne zu bedenken, daß jedes angebrannte Zündholz mich einen Tag meines Lebens kosten konnte. Ich sprang aus dem Bett und holte den Vorrat aus der Kammer. Hugo, der ein starker Raucher war, hatte an Zünder gedacht, auch eine Schachtel Feuersteine für sein Feuerzeug hatte er besorgt. Leider brachte ich das Tischfeuerzeug aber nie dazu, daß es funktionierte. Ich besaß noch zehn Pakete Zünder, ungefähr viertausend Hölzchen. Nach meinen Berechnungen konnte ich damit fünf Jahre auskommen. Heute weiß ich, daß ich ungefähr richtig gerechnet habe; mein Vorrat wird bei großer Sparsamkeit noch zweieinhalb Jahre reichen. Damals atmete ich befreit auf. Fünf Jahre schienen mir eine unendlich lange Zeit. Ich glaubte nicht, daß ich alle Hölzchen aufbrauchen würde. Jetzt scheint der Tag des letzten Zündholzes in greifbare Nähe gerückt. Aber selbst heute sage ich mir noch, daß es nie soweit kommen wird.
Zweieinhalb Jahre werden vergehen, und dann wird mein Feuer erlöschen, und alles Holz um mich herum wird mich nicht vor dem Verhungern oder Erfrieren retten können. Und doch sitzt in mir noch immer eine wahnsinnige Hoffnung. Ich kann nur nachsichtig darüber lächeln. Mit diesem verstockten Eigensinn habe ich als Kind gehofft, nie sterben zu müssen. Ich stelle mir diese Hoffnung als einen blinden Maulwurf vor, der in mir hockt und über seinem Wahn brütet. Da ich ihn nicht aus mir vertreiben kann, muß ich ihn gewähren lassen.
Eines Tages wird der letzte Schlag ihn und mich treffen, und dann wird selbst mein blinder Maulwurf eswissen, ehe wir beide sterben. Er tut mir fast leid, ich hätte ihm für seine Beharrlichkeit ein wenig Erfolg gegönnt. Anderseits ist er eben wahnsinnig, und ich muß froh sein, wenn ich ihn unter Kontrolle halten kann.
Es gibt übrigens noch eine andere lebenswichtige Frage, die Frage der Munition. Mit ihr kann ich noch ein Jahr auskommen. Seit Luchs tot ist, brauche ich ja viel weniger Fleisch. Im Sommer werde ich gelegentlich Forellen fangen und im übrigen auf eine gute Erdäpfel-und Bohnenernte hoffen. Zur Not könnte ich mich auch von Erdäpfeln, Bohnen und Milch ernähren. Aber Milch wird es nur geben, wenn Bella wieder ein Kalb bekommt. Jedenfalls fürchte ich mich vor dem Hunger viel weniger als vor der Kälte und Dunkelheit. Wenn es dazu kommt, muß ich den Wald verlassen. Es hat keinen Sinn, so viel über die Zukunft zu grübeln, ich muß nur darauf achten, gesund und anpassungsfähig zu bleiben. Eigentlich mache ich mir in den letzten Wochen wenig Sorgen. Ich weiß nicht, ob das ein gutes oder ein böses Zeichen ist. Vielleicht wäre alles anders, wenn ich wüßte, daß Bella ein Kalb erwartet. Manchmal denke ich auch, es wäre besser, wenn es nicht geschähe. Es würde das unvermeidliche Ende nur hinauszögern und mir eine neue Last aufbürden. Aber es wäre doch schön, wenn wieder etwas Neues, Junges da wäre. Vor allem wäre es gut für die arme Bella, die jetzt so verlassen in ihrem dunklen Stall steht und wartet.
Eigentlich lebe ich jetzt gern im Wald, und es wird mir sehr schwerfallen, ihn zu verlassen. Aber ich werde zurückkommen, wenn ich dort drüben jenseits der Wand am Leben bleiben werde. Manchmal stelle ich mir vor, wie schön
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