Die Wand
war. Sogar meine armen Kinder litten schon darunter und konnten nicht zehn Minuten allein bleiben. Wir waren alle ganz betäubt von Langeweile. Es war uns gar nicht möglich, ihr zu entfliehen, ihrem pausenlosen Dröhnen und Flimmern. Ich wundere mich über nichts mehr. Vielleicht war die Wand auch nur der letzte verzweifelte Versuch eines gequälten Menschen, der ausbrechen mußte, ausbrechen oder wahnsinnig werden.
Die Wand hat unter anderem auch die Langeweile getötet. Die Wiesen, Bäume und Flüsse jenseits der Wand können sich nicht langweilen. Mit einem Ruck stand die rasende Trommel still. Dort drüben kann man nur noch den Regen, den Wind und das Knistern der leeren Häuser hören; die verhaßte brüllende Stimme ist verstummt. Aber es gibt keinen mehr, der sich an der großen Stille erfreuen kann.
Da der September heiter und warm blieb und ich mich von meiner Müdigkeit erholt hatte, beschloß ich, wieder nach Beeren Ausschau zu halten. Ich wußte, daß die Dorfleute immer von der Alm Preiselbeeren geholt hatten. Preiselbeeren wären für mich ein Segen gewesen, weil man sie auch ohne Zucker einkochen kann. Ihr Gehalt an Gerbsäure läßt sie nicht verderben. Am zwölften September brach ich mit Luchs nach dem Frühmelkenauf. Bella ließ ich zur Sicherheit im Stall. Meine einzige Sorge galt Perle, die sich angewöhnt hatte, kleine Ausflüge zum Bach zu unternehmen. Wenige Tage zuvor war sie mit einer Forelle im Maul nach Hause gekommen und hatte sich zu ihrer Mahlzeit unter der Veranda niedergelassen. Sie war stolz und fröhlich über ihren ersten Erfolg, und ich mußte sie loben und streicheln. So saß sie jeden Tag mitten im Bach auf einem Stein, die rechte Vorderpfote erhoben, und wartete. Ihr Fell leuchtete weithin in der Sonne, und jeder, der Augen im Kopf hatte, mußte sie sehen. Ich konnte gar nichts dagegen tun. Der Traum von der friedlichen Zimmerkatze war ausgeträumt, ich hatte ohnedies nie wirklich daran geglaubt. Weder die alte Katze noch später Tiger gingen jemals zum Bach. Beide waren außergewöhnlich wasserscheu. Perle war ein wenig aus der Art geschlagen. Die alte Katze betrachtete das befremdliche Benehmen ihrer Tochter mit Mißbilligung, mischte sich aber nicht mehr in ihre Angelegenheiten. Perle war kaum halbwüchsig, aber ihre Mutter kümmerte sich kaum noch um sie und hatte ihr altes Leben wieder aufgenommen. So sperrte ich Perle bei Wasser und Fleisch in die obere Kammer, in der ich Rinde und Fallholz liegen hatte. Es tat mir leid, aber ich konnte nicht anders.
Der Aufstieg zur Alm, der Weg war nicht schwer zu finden, dauerte drei Stunden. Der Weg war gut erhalten und breit, weil er ja dem Viehauftrieb gedient hatte. Wäre die Wand einige Tage später entstanden, hätten sich dort oben eine kleine Rinderherde und eine Sennerin befunden. Aber ich wollte mich nicht beklagen, es hätte für mich alles viel übler aussehen können.
Die Almhütte lag inmitten einer großen Wiese, auf der das Gras schon ein wenig gelb wurde. Während ich über die weichen Matten wanderte, dachte ich an Bella,die den ganzen Sommer hindurch das harte staudige Gras von der Lichtung gefressen hatte, während es hier die zartesten Kräuter für sie gab. Sofort kam mir der Gedanke, sie im nächsten Mai hierherzubringen. Gleichzeitig tauchten aber so viele Schwierigkeiten vor mir auf, daß ich ängstlich zurückschrak. Die Almhütte war in gutem Zustand, und es ließ sich zur Not einen Sommer darin leben. Ich fand ein Butterfaß, zwei alte Kalender und das Bild eines mir unbekannten Filmstars, mit Reißnägeln an den Kasten geheftet. Die Sennerin war also ein Senn gewesen. Die Hütte war sehr verschmutzt, das Geschirr zeigte braune Fettränder, und der Tisch war wohl niemals abgerieben worden. Ich fand auch noch einen schwarzgrün schillernden Filzhut und einen zerrissenen Wetterfleck. Ich war müde, und meine Begierde nach Preiselbeeren wurde immer schwächer. Ich mußte mich zwingen weiterzugehen. Schließlich fand ich den Platz, an dem sie wuchsen. Sie waren aber erst rosa; ich mußte also noch einmal auf die Alm steigen, um sie zu holen. Ehe ich den Rückweg antrat, suchte ich noch eine Stelle, von der aus ich das Land überblicken konnte. Die Wiese ging dort in Wald über, und dann fiel jäh eine Geröllhalde ab. Dort setzte ich mich auf einen Baumstrunk und sah durch das Glas in die Ferne.
Es war ein schöner Herbsttag, und die Fernsicht war sehr gut. Ich zitterte ein wenig, als ich anfing, die roten
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