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Die Wand

Titel: Die Wand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlen Haushofer
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Wald. Aber das sind nur Träume. Offenbar hört ein Mensch nie auf, bei Tag zu träumen.
    Ich zerwirkte den Rehbock, eine Arbeit, die mir anfangs große Mühe bereitet hatte, und legte das gesalzeneFleisch in Eimer, die ich mit großen Deckeln zuband. Dann trug ich die Eimer zu einer Quelle und stellte sie bis zum Rand in das eisige Wasser. Es ist dies nicht meine Brunnenquelle, es gibt hier eine ganze Menge Quellen. Sie entspringt unter einer Buche und sammelt sich in einer tiefen Mulde zwischen den Wurzeln zu einem kleinen Teich, fließt dann einige Meter weiter und verschwindet wieder im Boden. Einer von Hugos Jagdgästen, ein kleiner bebrillter Mann, behauptete einmal, das ganze Gebirge, ja selbst das Tal erhöbe sich über riesigen Höhlen. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber ich habe oft gesehen, daß eine Quelle oder ein kleiner Bach spurlos in der Erde verschwindet. Wahrscheinlich hatte der kleine Mann recht.
    Der Gedanke an diese Höhlen verfolgt mich manchmal tagelang. Das viele Wasser, das sich dort unten sammelt, ganz klar und gefiltert von Erde und Kalkstein. Vielleicht gibt es auch Tiere in den Höhlen. Grottenolme und weiße blinde Fische. Ich sehe, wie sie endlos im Kreis schwimmen, unter den riesigen Tropfsteinkuppeln. Nichts ist zu hören als das Rieseln und Rauschen des Wassers. Wo könnte es einsamer sein? Ich werde die Olme und Fische nie sehen. Vielleicht gibt es sie gar nicht. Ich möchte nur gern, daß auch in den Höhlen ein wenig Leben ist. Höhlen haben etwas sehr Anziehendes und zugleich Abschreckendes an sich. Als ich noch jung war und der Tod mir wie eine persönliche Beleidigung erschien, stellte ich mir oft vor, wie ich mich zum Sterben in eine Höhle zurückziehen wollte, um nie gefunden zu werden. Dieser Gedanke hat noch immer einen gewissen Reiz für mich; es ist wie ein Spiel, das man als Kind gespielt hat und an das man noch manchmal gerne zurückdenkt. Ich habe es nicht nötig, mich vor meinem Tod in eine Höhle zurückzuziehen. Keiner wirdbei mir sein, wenn ich sterbe. Niemand wird mich betasten, anstarren und seine heißen lebendigen Finger auf meine erkaltenden Lider pressen. An meinem Sterbelager werden sie nicht zischeln und flüstern und mir die letzten bitteren Tropfen zwischen die Zähne zwängen. Eine Zeitlang dachte ich, daß Luchs die Totenklage für mich halten würde. Es ist anders gekommen, und es ist besser so. Luchs ist in Sicherheit, und für mich wird es weder Menschenstimmen noch Tiergeheul geben. Nichts wird mich zurückreißen in die alte Qual. Ich lebe immer noch gern, aber eines Tages werde ich genug gelebt haben und zufrieden sein, daß es zu Ende geht.
    Aber natürlich kann auch alles ganz anders kommen. Ich bin noch lange nicht in Sicherheit. Sie können jeden Tag zurückkommen und mich holen. Es werden Fremde sein, die eine Fremde finden werden. Wir werden einander nichts mehr zu sagen haben. Es wäre besser für mich, sie kämen nie. Damals, im ersten Jahr, dachte und fühlte ich noch nicht so. Alles hat sich fast unmerklich gewandelt. Deshalb wage ich nicht mehr, allzuweit vorauszuplanen, denn ich weiß nicht, wie ich wiederum in zwei Jahren fühlen und denken werde, oder in fünf oder zehn. Ich kann es nicht einmal ahnen. Ich lebe nicht gern planlos in den Tag hinein. Ich bin ein Ackerbauer geworden, und ein Ackerbauer muß planen. Wahrscheinlich war ich nie etwas anderes als ein verhinderter Ackerbauer. Vielleicht wären meine Enkel schon leichtsinnige Falter geworden. Meine Kinder schon schoben jede Verantwortung von sich. Ich habe aufgehört, das Leben und den Tod weiterzugeben. Auch das Alleinsein, das uns so viele Generationen begleitet hat, stirbt mit mir aus. Das ist nicht gut und ist nicht schlecht; es ist einfach.
    Und wie bringe ich die Tage dieses Winters hin?
    Ich erwache in der Dämmerung und stehe sofort auf. Bliebe ich liegen, finge ich an zu denken. Ich fürchte Gedanken in der Morgendämmerung. So gehe ich an die Arbeit. Bella begrüßt mich freudig. Sie hat so wenig Vergnügen in letzter Zeit. Ich wundere mich darüber, wie sie es erträgt, Tag und Nacht allein in ihrem düsteren Stall zu sein. Ich weiß so wenig von ihr. Vielleicht träumt sie manchmal, flüchtige Erinnerungen, Sonne auf ihrem Rücken, saftiges Gras zwischen den Zähnen, ein Kalb drängt sich warm und duftend an sie, Zärtlichkeit, endlose stumme Zwiesprache aus vergangenen Wintertagen. Nebenan raschelt das Kalb in der Streu, vertrauter Atem steigt aus vertrauten

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