Die Wanderapothekerin 1-6
tausend Gemeinheiten verriet. Einen Augenblick später fiel die Schnur herab, und der Köhler zog die Strickleiter nach oben.
»Bis bald, ihr zwei Hübschen!«, rief er noch. Dann vernahm Klara sich entfernende Schritte.
Zuerst bedachte sie Görch mit allen Schimpfworten, die ihr einfielen. Aber nach einer Weile überwog ihre Besorgnis die Wut. Ihre anfängliche Hoffnung, man würde sie suchen und ihre Stimme im Wald ebenso hören, wie sie die Hilferufe ihrer Leidensgefährtin vernommen hatte, schwand jedoch rasch. Den Geschwistern hatte sie erzählt, sie wolle nach Hildburghausen gehen. Also würde man höchstens in dieser Richtung nach ihr suchen. Das Waldstück um die Schlucht wurde jedoch von alters her von den meisten Einheimischen gemieden, und nur deswegen konnte ein so verderbter Mensch wie Görch seine Verbrechen hier verüben. Sie selbst würde nur ein Name auf der Liste der Mädchen sein, die verschwunden blieben.
Ihr kam der Gedanke, Görch würde es irgendwann übertreiben, so dass man ihn überführen konnte. Die Vorstellung tröstete sie jedoch nicht, denn ihr würde das nicht mehr helfen. Also durfte sie sich nicht auf Rettung durch andere verlassen, sondern musste es selbst in die Hand nehmen.
Entschlossen ergriff sie die Laterne und leuchtete die Wände ab. Zu ihrem Leidwesen stieg die Felswand fast senkrecht in die Höhe, und es gab keine Möglichkeit, daran hochzuklettern. Sie konnte nicht einmal sehen, wo sie oben endete, denn der Schein der Laterne reichte nicht weit genug.
»Auf diese Weise ist ein Entkommen unmöglich«, murmelte sie und sah sich in der anderen Richtung um. Die Höhlenkammer, in der sie sich befand, war etwa zehn Schritte lang und fast ebenso breit, und sie konnte drei kleinere Gänge erkennen, die in sie mündeten. In einem davon hockte ein junges Mädchen etwa in ihrem Alter. Es war völlig verdreckt und heulte in einer Weise, die Klara zornig machte.
»Nimm dich zusammen! Wir müssen überlegen, wie wir Görch entkommen.«
»Es gibt kein Entkommen!«, wimmerte die Fremde. »Er wird zurückkehren und mir erneut Gewalt antun – und dir ebenfalls. Wir sind verloren! Und wir werden so enden wie sie!«
»Wer ist sie?«, fragte Klara, während sich ihr die Nackenhaare aufstellten.
»Sie ist da drinnen«, sagte das Mädchen und deutete auf einen anderen Seitengang.
Neugierig geworden, ging Klara hin, reckte die Laterne hinein und prallte mit einem Aufschrei zurück. Vor ihr lag ein Skelett mit einem schmalen Schädel, dessen Unterkiefer weit herabhing, so als wolle er jetzt noch sein Leid hinausschreien. Vermoderte Kleiderfetzen zeigten an, dass es sich um eine Frau gehandelt haben musste.
»Er sagt, er hätte sie aufgegessen, nachdem sie nicht mehr zu gebrauchen war.« Das Mädchen war hinter Klara getreten, wagte aber nicht, die skelettierte Frau anzusehen.
Auch Klara wandte sich ab, stützte sich an der Felswand ab und spürte, wie ihr Magen rebellierte. Sie würgte jedoch nur stinkende, warme Luft und gelbe Galle heraus.
Mitleidig legte ihr das Mädchen die Hand auf die Schulter.
»Mir ist es nicht anders ergangen, als ich die Tote zum ersten Mal gesehen habe. Der Mistkerl hat mich hierhergeschleift und mit der Laterne in die Höhlung hineingeleuchtet. Genau so, hat er gesagt, würde auch ich enden. Dann ist er über mich hergefallen und … und hat mir dabei schier unerträgliche Schmerzen zugefügt! Oben im Wald hat er zuerst meinen Vater umgebracht!« Nun war es mit der Selbstbeherrschung der jungen Frau wieder vorbei, und sie schluchzte, als wolle sie alles Leid der Welt anklagen.
Klara blickte auf die Höhlung, in der die Tote lag, und begriff, dass sie ihre gesamte Findigkeit und den Segen des Himmels brauchen würde, um lebend hier herauszukommen.
13.
G örch ließ sich Zeit. Klara wusste nicht, ob es wirklich die Sorge um seinen Meiler war oder ob er sie und ihre Mitgefangene so lange durch Hunger schwächen wollte, bis sie alles wehrlos über sich ergehen ließen.
»Wie heißt du eigentlich?«, fragte sie ihre Mitgefangene, um nicht nur an ihre schier aussichtslose Lage denken zu müssen.
»Dieta! Und du?«
»Klara!«
»Wir werden beide hier umkommen, genau wie sie!«, rief Dieta und begann erneut zu schluchzen.
»Das werden wir nicht«, behauptete Klara. »Immerhin sind wir zu zweit und können Görch eine Falle stellen.«
Dieta schüttelte verzweifelt den Kopf. »Er ist viel zu stark und so gemein! Er wird Dinge mit uns tun, für die wir in
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