Die Wanderapothekerin 1-6
Erleichterung nicht direkt aus Richtung der Schlucht. Vorsichtig ging sie den Rufen nach und blieb mit einem Mal verwirrt stehen.
»Hilfe, rettet mich!«, erscholl es wieder, und diesmal kam es von hinten.
»Das ist unmöglich!«, murmelte Klara und drehte sich um, sah aber niemanden. Nach einigen Augenblicken kam sie zu der Überzeugung, dass ein Waldgeist sie narrte. Kein menschliches Wesen konnte gleichzeitig vor ihr und hinter ihr um Hilfe rufen. Sie wollte weitergehen, als sie die Stimme erneut vernahm.
»Bei der Heiligen Jungfrau und unserem lieben Herrn Jesus Christus, so helft mir doch!«
Klara blieb wie angewurzelt stehen. Kein Geist würde die Jungfrau Maria oder gar den Heiland anrufen! Das fremde Mädchen kam ihr in den Sinn, und nun ging sie ganz langsam in die Richtung, aus der sie die Stimme vernommen hatte. Als wieder ein Hilferuf erscholl, eilte sie auf ihn zu und hatte auf einmal das Gefühl, er würde von unten kommen. Zuerst erschrak sie und befürchtete, die Fremde wäre bereits in der Hölle gefangen. Dann aber erinnerte sie sich, dass es hier in den Bergen Höhlen gab. Die Menschen mieden diese grausigen Löcher, denn sie galten als Eingang zu Satans Reich.
War das verschollene Mädchen in eine dieser Höhlen geraten, nachdem sein Vater getötet worden war, und kam nicht mehr heraus? In dem Fall durfte sie nicht weitergehen, ohne sich um das arme Menschenkind zu kümmern, sonst würde sie den Segen des Himmels verlieren. Schnell sprach sie ein Gebet und flehte Jesus Christus um Schutz an. Dann sah sie sich noch einmal gründlich um und entdeckte endlich die Stelle, aus der die Hilferufe drangen. Es war ein kleiner Spalt im Waldboden, den sie für den Bau eines Wiesels gehalten hatte. Als sie sich darüber beugte, hörte sie die Fremde zwar nicht mehr rufen, vernahm aber ein herzzerreißendes Schluchzen.
Einen Augenblick lang erwog Klara, nach Katzhütte zurückzulaufen und Fritz Kircher zu holen, damit er ihr bei der Suche half. Sie zweifelte jedoch daran, dass er den Mut aufbringen würde, mit ihr zu kommen. Auch sonst kannte sie niemanden, der bereit war, sich jetzt noch in die Nähe der Teufelsschlucht zu wagen.
Dann atmete sie erleichtert auf. Es gab einen, nämlich Görch, den Köhler. Dessen Meiler war nicht so weit von dieser Stelle entfernt wie das Dorf, und der Mann kannte sich hier aus.
»Er weiß gewiss, wo es Höhlen gibt, die in Frage kommen«, sagte Klara halblaut, um sich Mut zu machen.
Einen Augenblick fühlte sie sich unsicher, weil sie nicht wusste, in welcher Richtung sie den Kohlenbrenner finden würde. Dann aber schnupperte sie und nahm den Geruch des Meilers wahr, den der Wind ganz dünn mit sich trug. Also musste der Meiler seitlich der Teufelsschlucht stehen und damit außerhalb des Gebiets, in dem die beiden Morde geschehen und die Mädchen verschwunden waren.
Dennoch fürchtete sie sich und war schließlich froh, als sie den Weg erreichte, der zu Görchs Meiler führte.
12.
E in intensiver Geruch nach brennendem Harz kündigte Klara den Meiler an, bevor sie ihn sah, und führte sie zu der Stelle, an der Görch seine Kohlen brannte. Der Meiler rauchte stark, und das war Klaras Wissen zufolge nicht gut.
Er zieht zu viel Luft, dachte sie und sah sich nach dem Köhler um. Zunächst entdeckte sie ihn nicht, doch als sie sich dem Unterstand näherte, den er aus ungeschälten Brettern zusammengenagelt hatte, trat er aus der Tür und musterte sie misstrauisch.
»Du bist doch Martin Schneidts Klara! Was hast du hier zu suchen?«
»Ich habe weiter oben jemanden um Hilfe rufen gehört«, berichtete Klara aufgeregt. »Es kann sich nur um das verschwundene Mädchen handeln! Wie es aussieht, befindet sie sich in einer der Höhlen und findet nicht mehr heraus.«
Der Köhler machte eine abwehrende Handbewegung. »Was du nicht sagst! Gewiss hast du die Geister gehört, die in der Teufelsschlucht hausen. Wärst ihnen wohl als Beute willkommen gewesen. Was machst du überhaupt hier?«
»Es waren keine Geister!«, erwiderte Klara nachdrücklich, ohne auf seine Frage einzugehen. »Ich habe die Stimme ganz deutlich gehört. Sie hat die Jungfrau Maria angerufen und unseren Herrn Jesus Christus. Das tun Geister niemals!«
Der Köhler tat ihre Worte mit einer verächtlichen Handbewegung ab. »Dann war es der Wind in den Bäumen, den du gehört und für eine Stimme gehalten hast!«
Klara ballte verzweifelt die Hände zu Fäusten. »Wenn du mir nicht hilfst, muss ich nach
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